»Ich verstehe, Herr«, sagte Arlene, und Lady Rosa senkte erschaudernd den Blick.
»Wir haben genug Felle«, sagte ich zu Imnak. »Am besten führst du mit Ram die Frauen aus der Station auf das Eis. Dort seid ihr auf jeden Fall sicherer.«
»Und was ist mit dir?« fragte Imnak.
»Ich bleibe hier.«
»Ich auch«, sagte Drusus.
»Ich ebenfalls!« rief Arlene.
»Du tust, was man dir sagt, Sklavin!« herrschte ich sie an.
»Ja, Herr«, antwortete sie mit Tränen in den Augen.
Im gleichen Augenblick wurde energisch gegen das breite Außenluk geklopft. »Ergebt euch! Macht auf!« rief eine Stimme.
»Wir stecken in der Klemme«, sagte ich.
»Fliehen können wir nicht mehr«, stellte Drusus fest.
»Weg von der breiten Tür!« sagte ich. »Vielleicht will man sie aufsprengen.«
Mit gezückten Pfeilgewehren traten wir zurück.
Plötzlich tönte ein lauter Schrei von draußen. Dann verstärkte sich das Klopfen, das plötzlich etwas Angstvolles hatte, »Hilfe! Hilfe!« riefen Stimmen. »Laßt uns herein! Laßt uns herein!« Verzweifelt wurde gegen das Luk gehämmert. »Wir ergeben uns! Bitte! Bitte!« Geschrei ertönte. Etwas Hartes prallte gegen den Stahl. Die Ladung eines Pfeilgewehrs explodierte irgendwo. »Wir ergeben uns! Wir ergeben uns!« gellten Stimmen. »Laßt uns hinein!«
»Ein Trick«, sagte Drusus.
»Auf jeden Fall klingt es sehr überzeugend«, meinte ich achselzuckend.
Ein Mann schrie vor Schmerzen auf.
Als nächstes tönte die Stimme eines Mannes von draußen herein. Er äußerte sich in der Sprache des Volkes, von der ich nur wenig verstand.
Imnak begann zu lachen und lief an das Rad. Ich hielt ihn nicht auf. Er betätigte den Öffnungsmechanismus. Das große, eckige Luk, etwa zehn Fuß im Quadrat messend, mit zahlreichen Nieten besetzt, öffnete sich langsam.
Ram stieß einen Jubelschrei aus.
Auf dem schwach erleuchteten endlosen Polareis entdeckten wir Hunderte von Gestalten, Angehörige des Volkes, Männer, Frauen und Kinder, viele auf sleengezogenen Schlitten. Und noch immer kamen neue hinzu. Karjuk stand dicht am Eingang, den gespannten Tabukhornbogen in der Hand, einen Pfeil auf der Sehne. Andere Jäger bildeten einen Halbkreis. Überall auf dem Eis lagen Männer aus der Station; etliche hatten lange Pfeile im Körper, während andere mit Speeren niedergemacht worden waren. Mehrere Gefangene duckten sich zusammen, furchtsam einigen Sleen ausweichend, die von rothäutigen Jägern an der Leine gehalten wurden. Andere lagen mit dem Bauch nach unten auf dem Eis und wurden gefesselt.
Karjuk gab Befehle. Rothäutige Jäger strömten an mir vorbei in die Station. Imnak reichte einigen Pfeilgewehre aus unserem Vorrat und erklärte eilig, wie man damit umgehen mußte. Die meisten aber kümmerten sich gar nicht um ihn; sie waren es zufrieden, sich auf ihre Holz- und Knochenwaffen zu verlassen. Die Männer mit den gezähmten Sleen marschierten an mir vorbei; zu bedauern waren die Gegner, auf die diese Tiere gehetzt wurden. Drusus nahm ein Pfeilgewehr an sich und schloß sich einer Gruppe Jäger an. Ram gesellte sich zu einem der nächsten Kommandos. Ich blickte aus dem Luk. Noch immer näherten sich weitere Angehörige des Volkes, nicht nur Jäger, sondern auch Frauen und Kinder, über das Eis. Viele lösten Schnee-Sleen von den Schlitten, um sie als Angriffstiere einzusetzen.
Karjuk stand neben der Öffnung und gab seine Befehle in der Sprache der rothäutigen Jäger.
»Das müssen ja mehr als fünfzehnhundert Leute sein«, sagte ich.
»Sie kommen aus allen Lagern«, sagte Imnak. »Es werden insgesamt mehr als zweitausendfünfhundert sein.«
»Dann ist ja das gesamte Volk hier versammelt«, sagte ich.
»Ja«, antwortete Imnak, »das ganze Volk.« Er grinste mich an. »Manchmal kann der Wächter nicht alles allein machen.«
Ich wandte mich an Karjuk. »Ich habe dich für einen Verbündeten der Ungeheuer gehalten«, sagte ich.
»Ich bin der Wächter«, sagte er. »Ich gehöre zum Volk.«
»Verzeih mir«, sagte ich, »daß ich an dir gezweifelt habe!«
»Schon geschehen«, sagte er.
Immer mehr rothäutige Jäger strömten an uns vorbei.
Ich sah, daß zwei Männer der Station durch den Korridor gestoßen wurden. Man hatte ihnen die Handgelenke mit Lederschnüren gefesselt. Eine Frau wurde am Haar mitgezerrt. Sie trug keine Kleidung.
»An deiner Stelle würde ich mich umziehen«, sagte Imnak zu mir. »Man könnte dich sonst für einen Mann aus der Station halten.«
Ich legte den Anzug ab, und zog Stiefel und eine Fellhose über. Wegen der Hitze, die in der Station herrschte, wollte ich kein Hemd und keine Parka tragen.
Immer mehr Jäger eilten an uns vorbei in die getarnte Basis der Kurii. Imnak erklärte immer wieder, wie die Pfeilgewehre funktionierten.
Die draußen gemachten Gefangenen wurden in die Station geholt und dort sicher untergebracht.
»Sucht euch einen wärmeren Ort«, sagte ich zu den Mädchen, die in dem zugigen Außenraum erbärmlich froren. Arlene, Audrey, Barbara, Constance und die anderen Mädchen kamen dieser Aufforderung gern nach.
Karjuk verließ seinen Posten, um den Einsatz innerhalb der Station zu leiten. Imnak begleitete ihn.
Ich trat in die arktische Nacht hinaus, um unsere Nachhut zu begutachten. Meine Blicke tasteten die Klippen wie auch das umliegende Eis ab und suchten nach Hinweisen für einen gezielten Ausfall oder einen Fluchtversuch. Aber es zeigte sich nichts. Wenn es überhaupt Flüchtlinge gab, so würden sie wohl in der arktischen Nacht nicht lange überleben. Irgendwann einmal erschöpften sich die Heizgeräte der Anzüge, dann waren die Männer Schnee und Eis gnadenlos ausgeliefert.
Ich blickte mich um und merkte plötzlich, daß sich das Luk zur Station langsam schloß. Hastig kehrte ich in die Anlage zurück und überraschte Lady Rosa, die damit beschäftigt war, das Kontrollrad zu drehen. Erschrocken drehte sie sich um und wich kopfschüttelnd vor mir zurück.
Wortlos zerrte ich sie hoch, stieß sie über die Schwelle und schloß nun meinerseits die Tür von innen. »Nein!« gellte ihr Schrei von draußen herein. »Nein!«
Ich hörte sie auf der anderen Seite des Metalls kreischen. »Laß mich hinein!« rief sie. »Ich verlange es! Ich bin eine freie Frau! Du kannst mir das nicht antun!«
Ich nahm nicht an, daß sie es draußen lange aushalten würde; dazu war sie viel zu dünn bekleidet.
Sie hatte versucht, mich umzubringen.
»Ich will deine Sklavin sein!« rief sie. Dabei wußte sie gar nicht, ob ich überhaupt noch hinter der Tür stand.
»Ich bin deine Sklavin!« rief sie. »Herr, Herr, ich bin deine Sklavin! Bitte verschone deine Sklavin, Herr.« Sie weinte bitterlich.
Ich drehte das Rad und öffnete den Durchgang wieder. Zitternd fiel sie über die Schwelle. Ich zog sie ins Innere und schloß das Luk wieder.
Entsetzt blickte sie zu mir auf. »Was für ein Mann bist du, Herr?« fragte sie. Zitternd kniete sie vor mir nieder.
»Schau mich an!« befahl ich, und sie gehorchte. »Du wirst die Peitsche zu spüren bekommen«, sagte ich zu ihr.
»Ja, Herr«, antwortete sie ergeben.
»Du wirst viel zu lernen haben.«
»Bitte unterweise mich. Ich werde lernen«, sagte sie. »Die Station ist in unserer Hand«, meldete Ram. »Bis auf das Gemach Zarendargars, der auch Halb-Ohr genannt wird. Niemand hat diesen Raum bisher betreten.«
»Das übernehme ich«, sagte ich.
»Wir könnten die Tür aufsprengen«, meinte Ram.
»Ja«, stimmte Drusus begeistert zu.
Ich marschierte durch den Korridor auf Zarendargars Kommandoraum zu. Etwa hundert Meter hinter mir kamen Ram und Drusus, Karjuk und Imnak und zahlreiche rothäutige Jäger. In meiner Hand ruhte ein Pfeilgewehr. Der Weg kam mir sehr weit vor. Ich wußte gar nicht mehr, wie weit das Gemach entfernt war. Das System der Deckenschienen war etwa vierzig Fuß vor Zarendargars Tür zu Ende. Ich blickte zur Überwachungskamera an der Decke empor, die sich auf mich gerichtet hatte. Zweifellos war meine Annäherung beobachtet worden.