»Waffen! Holt Waffen!« rief Hci.
Dicht neben uns traf ein Pfeil auf und versank beinahe bis zu den Federn im weichen Boden.
Ich roch Rauch. Geschrei gellte ringsum.
»Kaiila!« rief Hci. »Holt die Kaiila!«
»Lauft!« rief ein Mann. »Wir haben keine Zeit, Kriegsmedizin zu machen!«
»Bewaffnet euch!« brüllte Hci. »Holt Kaiila! Versammelt euch am Ratszelt! Kämpft!«
»Flieht!« schrie ein Mann.
»Flieht!« fiel ein anderer in das Geschrei ein.
»Aufpassen!« mahnte ich.
Ein Tarnreiter, der sich flach über den Rücken seines tieffliegenden Vogels gebeugt hatte, senkte die Lanze in unsere Richtung. Ich packte Hci, zerrte ihn zu Boden und sah die gefiederte Lanze wie einen langen, verwischten Schatten über uns dahinrasen. Und schon gewann der Vogel wieder an Höhe.
»Tarnkämpfer können das Lager nicht einnehmen«, sagte ich. Hier und dort brannten Zelte. Frauen kreischten.
Die Männer, die bei uns gewesen waren, hatten sich in alle Winde verlaufen.
»Faß mich nicht an!« fauchte Hci barsch.
Ich löste meine Hände von ihm.
»Die Leute werden nach Westen fliehen«, sagte Cuwignaka.
»Das dürfen sie nicht!« rief ich.
Wir sahen einen Kaiilareiter auf uns zugaloppieren. Plötzlich verlor er die Balance und fiel vom Rücken seines Tiers. Sich überschlagend, rollte er durch den Staub. Wir liefen zu ihm, und ich nahm ihn in die Arme. Sein Rücken war blutig. »Sie sind im Lager!« keuchte er.
»Wer?«
»Gelbmesser!« hauchte der Mann. »Hunderte von Gelbmessern. Zwischen den Zelten!«
»Sie sind aus dem Westen gekommen«, sagte Cuwignaka grimmig.
»Watonka muß sterben«, sagte Hci.
Ich legte den Körper des Mannes nieder. Er war tot. Eine Frau mit einem Kind im Arm floh an uns vorbei.
Hci stand auf und begab sich in das Zelt der Sleensoldaten. Ich schaute zum Himmel auf. Dieser Teil des Lagers wurde nicht mehr direkt angegriffen. Das Interesse der Tarnreiter, davon war ich überzeugt, würde dem Ratszelt und der näheren Umgebung gelten. Allein wegen seiner Größe war das Zelt nicht zu verfehlen, außerdem hatten die Angreifer von Watonka und seinen Verbündeten zweifellos genaue Beschreibungen erhalten. Kein Wunder, daß er wenig Lust gehabt hatte, dieses Zelt zu betreten.
»Ich gehe zu Grunts Bau«, sagte ich. »Meine Waffen liegen dort. Er hat sie für mich aufbewahrt. Außerdem finde ich dort Wasnapohdi. Sie braucht vielleicht Hilfe.«
»In meinem Zelt liegt eine Lanze«, sagte Cuwignaka.
»Wir holen sie unterwegs«, sagte ich. Es war die Lanze, die vor einigen Wochen mit dem Schaft nach unten neben dem angepflockten Cuwignaka im Boden gesteckt hatte. Anschließend war er von mir befreit worden.
Wir sahen zwei Männer vorbeilaufen.
»Wir müssen uns beeilen«, sagte ich.
19
»Nimm die Lanze!« schrie ich.
Erstaunt waren wir herumgefahren, wenige Meter von unserem Zelt entfernt, aus dem Cuwignaka soeben die Lanze geholt hatte.
Vorgebeugt und mit gesenkter Lanze galoppierte der Gelbmesserkrieger auf uns zu, und die trommelnden Hufe seiner Kaiila ließen den Staub aufwirbeln.
Cuwignaka duckte sich zur Seite und hob dabei die Arme; seine Fäuste führten die eigene Lanze. Holz erschauderte, als die beiden Waffen, Cuwignakas auf der Innenseite, sich gegeneinander drehten. Die gegnerische Lanzenspitze fuhr zwischen Cuwignakas Arm und Hals hindurch. Cuwignakas Lanze riß den Angreifer vom Rücken seiner Kaiila, die herrenlos weiterlief.
»Er ist tot«, sagte Cuwignaka und blickte zu Boden.
»Zieh deine Lanze heraus«, sagte ich.
Mein Freund stellte dem Mann den Fuß auf die Brust und zerrte die Lanzenspitze frei.
»In einer solchen Situation«, sagte ich, »ist es sicherer, von außen zuzustechen, und die andere Lanze wegzudrücken, um dann darüber hinweg anzugreifen.«
»Er ist tot«, wiederholte Cuwignaka.
»Hätte er die Lanze weiter rechts ausschwingen lassen«, sagte ich, »hättest du dich genau in ihre Bahn bewegt.«
»Ich habe ihn umgebracht«, sagte Cuwignaka.
»Schade, daß wir die Kaiila nicht halten konnten«, stellte ich fest.
»Er ist tot«, sagte Cuwignaka.
»Hör doch, was ich dir sage!«
»Ja, Tatankasa«, sagte Cuwignaka.
»Wir müssen uns beeilen«, sagte ich. »Wir sind gleich bei Grunts Zelt.«
»Alles in Ordnung?« fragte ich Wasnapohdi beim Eintritt in Grunts Zelt.
»Ja«, sagte das Mädchen, das angstvoll zwischen einigen Ballen kniete. »Was ist los?«
»Watonka hat das Lager verraten«, sagte ich. »Es wird von Tarnkämpfern und Gelbmessern angegriffen. Ist Grunt inzwischen zurückgekehrt?«
»Nein, Cuwignaka, bist du verletzt?«
»Nein«, antwortete er zitternd. »Das Blut stammt nicht von mir.«
»Wo sind meine Waffen?« fragte ich Wasnaphohdi.
»Ich habe einen Mann getötet«, murmelte Cuwignaka.
»Hier«, sagte Wasnapohdi, holte ein Bündel von der Außenwand des Zeltes und öffnete es. Darin lagen mein Gürtel mit Schwertscheide und Messerhülle; außerdem erblickte ich den kleinen Bogen, den ich vor langer Zeit in Kailiauk erworben hatte, samt seinem Köcher mit zwanzig Pfeilen.
»Tatankasa«, sagte Cuwignaka.
»Ja?« fragte ich und griff nach dem Waffengurt. Seit ich Cankas Sklavenkragen trug, hatte ich ihn nicht mehr umgehabt.
»Bewaffne dich nicht«, sagte Cuwignaka. »Als Sklave wirst du vielleicht verschont.«
Ich schnallte den Gürtel um. Ich zog das Kurzschwert ein Stück aus der Scheide und ließ es wieder hineinfallen. Ich testete das Messer: Die Scheide saß fest, aber die Klinge ließ sich mühelos ziehen. Dann beugte ich den Bogen und spannte ihn. Den Köcher warf ich mir über die Schulter. Zwei Pfeile nahm ich mit dem Bogen in die Hand, einen dritten setzte ich auf die Bogensehne.
Ich schaute Cuwignaka an.
»Das Lager ist groß und bevölkert. So ohne weiteres läßt es sich nicht erobern, auch nicht mit einem Überraschungsangriff. Es wird Widerstand geben.«
Cuwignaka schüttelte wie benommen den Kopf. »Ich kann nicht kämpfen«, sagte er. »Das konnte ich nie.«
»Komm, Wasnapohdi«, sagte ich zu dem Mädchen. »Wir wollen versuchen, andere zu finden. Vielleicht kann ich dich zu Grunt bringen.«
Sie stand auf.
»Wenn nötig«, sagte ich zu ihr, »wirfst du dich vor Gelbmessern auf die Knie. Vielleicht geben sie sich damit zufrieden, dich zu versklaven.«
»Ja, Herr«, sagte sie.
Am Zeltausgang wandte ich mich noch einmal zu Cuwignaka um.
»Ich habe einen Mann getötet«, sagte dieser erschaudernd. »Das könnte ich niemals wieder tun. Es ist zu schrecklich.«
»Der erste Gegner ist der schwerste«, sagte ich.
»Ich kann nicht kämpfen«, behauptete er.
»Wenn du hierbleibst, mußt du bereit sein, dich wehrlos zu ergeben oder mit den Unschuldigen zu sterben.«
»Respektierst du mich, Tatankasa?« fragte er.
»Ja«, erwiderte ich. »Der Tod wird dich aber nicht respektieren. Der hat vor niemandem Respekt. Vor gar nichts.«
»Bin ich ein Feigling?«
»Nein.«
»Irre ich mich?«
»Ja.«
»Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich bin völlig durcheinander.«
»Ich wünsche dir alles Gute, Mitakola, mein Freund«, sagte ich. »Komm, Wasnapohdi.«
Ich schaute mich kurz draußen um und verließ das Zelt. Wasnapohdi folgte mir. Wir bahnten uns unseren Weg zwischen Zelten hindurch, von denen etliche brannten. Gefüllte Fleischgestelle waren umgestoßen worden. Zum Trocknen aufgespannte Felle hatte man eingerissen und zertrampelt. Einmal wandte ich mich kurz um. Hinter mir war Cuwignaka aufgetaucht, der noch immer sehr mitgenommen wirkte. Er umklammerte seine Lanze mit beiden Händen. »Ich komme mit«, sagte er. Dann setzten wir unseren Weg fort.
»Zurück!« flüsterte ich. »Runter!«
Wir traten zurück und suchten hinter einem Zelt Schutz. Elf Reiter trabten vorüber.
»Gelbmesser«, sagte ich.
Etliche Krieger hatten blutige Skalps am Gürtel hängen.
»Wenn du nicht kämpfst«, fragte ich Cuwignaka, »wer soll dann die Schwachen und Unschuldigen beschützen?«