»Aber so läuft unser Denken normalerweise nicht«, sagte Cuwignaka. »Das Überleben ist uns wichtiger als der Ruhm.«
»Warum haben dann nur so wenige an dem Angriff teilgenommen?«
»Ich weiß es nicht.«
Ich war gereizt. Meine kunstvoll aufgebaute Erklärung war in sich zusammengebrochen. Nun begriff ich ebenso wenig wie Cuwignaka, was es mit dem jüngsten Angriff auf sich hatte.
»Schau!« rief er.
»Ich seh’s«, gab ich zurück.
Ein einzelner Tarnkämpfer bewegte sich hoch am Himmel auf die Gelbmesser zu und landete hinter ihren Reihen.
»Nun koordinieren sie bestimmt ihre Aktionen«, sagte Cuwignaka.
»Ich nehme es an«, sagte ich.
25
»Siehst du?« fragte Cuwignaka.
Ich nickte. Vor den Reihen der Gelbmesser, die etwa dreihundert Meter entfernt waren, ritten Reiter mit gefiederten Lanzen auf und ab.
Der Nachmittag ging seinem Ende zu.
»Sie bereiten sich auf einen Angriff vor«, sagte Cuwignaka. »Sie ermahnen die Krieger, Mut zu beweisen.«
»Ja«, antwortete ich. Unterdessen hatte ich meine Position zwischen den Kaiila wieder eingenommen. Zuvor war ich noch einmal zu unseren rückwärtigen Positionen geritten, um zum Abschluß die Aufstellung der Bogenschützen, die Positionierung der Spitzpfähle und die Haltbarkeit der Tarnnetze zu überprüfen. Alles war in Ordnung gewesen. Wäre ich nicht selbst geritten, hätte ich meine Vorschläge Cuwignaka vorgetragen, der sie seinerseits an Hci weitergegeben hätte. Von ihm wären sie an Mahpiyasapa oder Kahintokapa, Mann-dervorausgeht, weitergeleitet worden, der diesen Abschnitt unserer Stellungen befehligte. Kahintokapa aus der Casmu-Bande war Mitglied der angesehenen Gelben Kaiilareiter. Dieses umständliche Vorgehen erschien mir und Cuwignaka angebracht zu sein, vorausgesetzt die Zeit lief uns nicht davon. Weder Mahpiyasapa noch Kahintokapa hätten gern direkte Ratschläge zweier Burschen angenommen, die im Lager so unbedeutend waren wie wir. Andererseits hatte sich Hci als ungemein ehrlich erwiesen, was uns doch überraschte: er hatte seinem Vater und Kahintokapa klargemacht, von wem die Empfehlungen für die Erstverteidigung gegen die Kinyanpi stammten. Daß er meinen Rat überhaupt ernst genommen und danach gehandelt hatte, ihn gegenüber Kahintokapa und Mahpiyasapa sogar als den meinen ausgegeben hatte, war für mich und Cuwignaka überraschend gewesen. Keiner von uns hatte dies von Hci erwartet, der für uns der Inbegriff von Arroganz und Eitelkeit war. Zu unserer Überraschung hatten die Krieger bei unserer Ankunft auch ihre Reihen geöffnet und uns einen vollen Platz in ihrer Mitte zugestanden. Wir waren nicht geflohen. Wir wollten nicht bei den Frauen und Kindern warten. Wir waren mit Schilden und Lanzen zu ihnen gekommen. Daraufhin öffneten sie uns ihre Reihen, damit wir bei ihnen Position beziehen konnten: der eine ein Stammesangehöriger in Frauenkleidung, der andere ein Sklave.
»Ich glaube, sie werden bald kommen«, sagte Cuwignaka.
»Ja«, gab ich zurück.
Hinter unseren Reihen war mir Kahintokapa begegnet. Er hatte mir zum Gruß die flache Hand hingestreckt. Ich hatte die Geste erwidert. Es war beinahe, als wäre ich gar nicht Sklave in diesem Stamm. Er trug seinen Schild in einer Hülle. Vor dem Kampf würde er ihn natürlich wieder herausziehen.
»Wahrscheinlich warten sie auf die Kinyanpi«, meinte Cuwignaka.
»Vermutlich.«
Auf dem Rückritt zur Kampffront hatte ich bei Grunt Station gemacht. Er befand sich unweit der Frauen und Kinder. Zusammen mit einigen Frauen versorgte er Verwundete. Wasnapohdi war bei ihm. Daß wir den Kinyanpi-Angriff abwehren konnten, hatte ihn beflügelt. »Wir können das Lager halten, davon bin ich überzeugt!« hatte er gesagt.
»Ich nehme es an«, hatte ich geantwortet.
»Die Gelbmesser sind ziemlich erfolgreich gewesen«, antwortete er. »Sie haben zahlreiche Kaiila, reichlich andere Beute und Frauen erbeutet. Allerdings haben sie die Überraschung nicht mehr auf ihrer Seite. Ich kenne solche Männer. Sie werden sich bald zurückziehen. Die Beschaffung weiterer Beute wäre nun zu teuer für sie.«
»Noch haben sie sich nicht zurückgezogen«, sagte ich.
»Das verstehe ich nicht«, antwortete er.
»Ich auch nicht«, hatte ich erwidert. Es wollte mir seltsam erscheinen, daß die Gelbmesser nicht abgerückt waren, nachdem sie die Schwierigkeit der Lagereinnahme hatten einsehen müssen. Bei roten Wilden hätte man mit einer solchen Reaktion rechnen müssen.
»Sie verharren kampfbereit?« hatte Grunt gefragt.
»Ja«, hatte ich geantwortet.
»Interessant«, so lautete sein Kommentar.
Als ich mich von Grunt abwandte, war ich noch hundert Meter weiter geritten, um mir die Überreste des Ratszeltes anzusehen. Außer den Verstrebungen war kaum etwas übriggeblieben. Dieser Bau war das Hauptziel des ersten Kinyanpi-Angriffs gewesen. Wie man mir berichtet hatte, waren Hunderte von Pfeilen durch die Lederhäute des Bauwerks gedrungen. Es war zum Schauplatz eines Massakers geworden. Kein Wunder, daß Watonka nicht begierig gewesen war, an der Ratsversammlung teilzunehmen. Ein großes Glück, daß sich Mahpiyasapa und Grunt zur Zeit des Angriffs nicht im Lager aufgehalten hatten. Innerhalb weniger Ehn war die Oberschicht des Kaiila-Stammes, mitsamt ihrer Lebensund Führungserfahrung praktisch ausgelöscht worden. Einer der wenigen überlebenden war Kahintokapa, der sich einen Ausweg durch die Häute gesucht hatte und geflohen war. Gleichzeitig mit dem Luftangriff war eine Sonderabteilung der Gelbmesser mit Stoßrichtung Ratszelt in das Lager eingedrungen, und der Tod der Verwundeten und das Abbrennen des Ratszeltes ging auf ihr Konto. Eine ähnliche Gruppe war gegen die Tanzhalle vorgegangen. Anschließend hatten sich die Sonderabteilungen zurückgezogen. Kurze Zeit später war unter Führung Mahpiyasapas und Kahintokapas der erste Widerstand aufgeflackert. Ich schaute in den geschwärzten Kreis, der von kahlen Schäften gesäumt war. Dort drinnen lagen noch immer Tote, im Boden steckten noch zahllose Pfeile. Für die Kaiila war dies in der Tat ein düsterer, blutiger Tag.
Ganz allgemein gesprochen stimmten mich mehrere Details des Angriffs nachdenklich. Da war zunächst die Allianz, die Zusammenarbeit zwischen Gelbmessern und Kinyanpi, die nicht von Natur aus Verbündete waren. Es wollte mir ungewöhnlich erscheinen, daß die beiden Gruppierungen bei diesem Feldzug ihre Maßnahmen so vorzüglich koordiniert hatten. Eine Zusammenarbeit zwischen fremden Stammesgruppen gab es sonst nur in der gemeinsamen Abwehr weißhäutiger Eindringlinge in das Ödland. Eine andere Besonderheit des Angriffs lag in der Art und Weise seiner Leitung. Sie folgte nicht den normalen, ziemlich eingeengten Schmalspurmethoden, wie sie bei Konflikten zwischen roten Wilden üblich waren. Zum Beispiel der betrügerische Friedensvorstoß, der die Anführer eines ganzen Stammes auf kleinem Raum zusammenführen sollte, um sie mit schrecklichem Ausgang angreifen zu können – so etwas wäre der Intelligenz roter Wilder durchaus zuzutrauen, doch schien es mir nicht zur gewohnten Einstellung zu militärischen Dingen zu passen. Auf jeden Fall war diese Art der Kriegsführung für das Ödland ein wenig überraschend. Sie schien wenig zu tun zu haben mit den hier gepflegten Traditionen von Ehre und Coup-Zählen. Schließlich erschien es mir unvorstellbar, daß der Angriff gegen ein anderes Volk zur Zeit der großen Feste eingeleitet worden war. Dies kommt im Ödland einer Blasphemie gleich, einem Sakrileg. Ich konnte mir kaum vorstellen, daß die Gelbmesser, die selbst zu den roten Wilden gehörten, sich so etwas hatten ausdenken können. Auch dies schien mir ein Fingerzeig auf eine neue Überführung zu sein, auf die Annahme neuer Taktiken im Ödland. Ich mußte zugeben, daß der Gesamtplan, besonders in Zusammenarbeit mit Watonka, der später seinen Verbündeten überflüssig erschienen war, bestens funktioniert hatte. Daran führte kein Weg vorbei.
Wieder schaute ich auf die Leichen und die Pfeile zwischen den Überresten des Ratszeltes.