Es beginnt im Schwitzzelt – ein kleiner Bau, oval und niedrig gebaut. Ein Mann kann im Innern nicht aufrecht stehen. Zuerst wird ein Astgerüst errichtet, das man dann mit Fellen bedeckt. Im Loch in der Mitte werden die draußen erhitzten Steine abgelegt und mit Wasser übergossen. Mit dem Schwitzzelt verbinden sich zahlreiche bedeutsame Rituale. Wichtig sind dabei die Steine, das Feuer, die Ausrichtung des Zelts, der Weg zwischen Zelt und Feuer, die Wassermengen und die Art und Weise des Gießens und die Häufigkeit, mit der das Zelt geöffnet wird. Ich will diese Dinge nicht im Detail ausführen und mich mit der Bemerkung begnügen, daß die Zeremonie des Schwitzzelts ein detailliertes, komplexes, durchdachtes und sehr symbolisches Ritual ist. Hauptziel ist die Reinigung des Badenden, seine Vorbereitung auf die schwierige Aufgabe, den Traum oder die Vision zu erlangen. Meine Helfer, die sich um das Feuer und die Steine kümmerten, waren Canka und Cuwignaka.
Ich folgte dem vorgeschriebenen Ritual nicht in jeder Beziehung; zum einen, weil ich gewisse Vorbehalte hatte und an die Existenz der Medizinwelt nicht recht glauben konnte, zum anderen, weil ich kein Kaiilakrieger war. Meine Überlegungen und Entscheidungen in diesem Punkt wurden von Canka und Cuwignaka respektiert. Gleichwohl hat man viel Zeit zum Nachdenken, während man da allein im abgedunkelten Innern des Schwitzzeltes sitzt, den Kopf zwischen die Knie gedrückt, um in der ungeheuren Hitze nicht ohnmächtig zu werden. Es ist sicher nicht übel, wenn der Mensch ab und zu allein ist und Zeit zum Nachdenken hat. Es ist jedenfalls eine ausgezeichnete Gelegenheit zur Selbsterfahrung.
Nach Verlassen des Schwitzzelts begibt man sich zu einem Fluß und reinigt sich in kaltem Wasser von Kopf bis Fuß. Dann wird ein kleines Feuer aus Nadeln und Süßblättern entzündet, dessen Rauch man in seine Haut einmassiert. Schließlich reibt man sich mit weißem Kalk ein: Diese Dinge sollen den menschlichen Geruch verschwinden lassen. Angeblich mögen Medizinhelfer den Menschengeruch nicht.
Dann begibt man sich an den Ort der Visionen. Es ist eine hochgelegene, felsige Stelle. Einige Bäume stehen in der Nähe. Man kann über die Prärie hinwegschauen, deren Gras sich im Wind wiegt.
Dort fastet man. Dort wartet man.
Man darf ein wenig Wasser trinken. Das Verhungern dauert lange, wochenlang; Durst läßt den Tod schon viel früher eintreten.
Man wartet. Man weiß nicht, ob der Medizinhelfer kommen wird oder nicht.
Es ist einsam am Ort der Visionen.
Als ich erwachte, war es grau und kalt; die Morgendämmerung hatte eben eingesetzt.
Wie kommt es, daß diese Leute Visionen haben? fragte ich mich.
Vielleicht hat der mit Entbehrungen gepeinigte Körper irgendwann genug. Vielleicht fleht er dann das Gehirn um eine Vision an, die ihm Erleichterung bringen könnte.
Natürlich ist es hilfreich, an solche Visionen zu glauben und sie als Zeichen aus der Medizinwelt zu akzeptieren.
Am Ort der Visionen kommt es zu seltsamen Bewußtseinsverschiebungen; sicher hat das mit Hunger und Durst und der Einsamkeit zu tun. Manchmal fällt es schwer, zwischen Träumen, Visionen und Realitäten zu unterscheiden.
Man braucht nicht unbedingt eine Vision. Ein Traum erfüllt denselben Zweck.
Aber es gibt Menschen, die einfach keine Visionen haben können; andere wiederum können sich nicht daran erinnern, was sie im Traum erlebt haben. Sie wissen nicht mehr, was sie im Traumland taten – nur daß sie dort waren.
Aber solche Fälle behandeln die roten Wilden gnädig. Sie wissen, daß nicht alle Menschen gleich sind. Es genügt ihnen, wenn man den Versuch macht, zu träumen, die Vision zu erlangen. Schließlich steht es in der Entscheidung des Medizinhelfers zu erscheinen – oder aber auch nicht. Von einem Menschen kann man nicht mehr erwarten, als daß er sich an den Ort der Visionen begibt. Das ist sein Teil an der Sache. Was kann er mehr tun?
Der Medizinhelfer kommt nicht, redete ich mir ein. Ich habe getan, was ich konnte. Ich bin durch.
Dann vernahm ich ein Geräusch und fürchtete schon, es könnte ein Sleen sein.
Mühsam kämpfte ich mich in eine sitzende Stellung hoch. Stehen konnte ich nicht mehr. Ich hörte kleine Steine den Hang hinabklappern. Ich legte die Hand auf meinen Messergriff. Es war die einzige Waffe, die ich hier am Ort der Visionen hatte. Doch meine Finger vermochten sich kaum um den perlenbesetzten Griff zu schließen. Ich war zu schwach.
Den Kopf sah ich zuerst, dann den Körper des Geschöpfs. Wenige Fuß von mir entfernt hockte es sich nieder. Es war groß, größer als ein Sleen. Ich legte die Hände auf die Knie.
Das Wesen hob den lederumwickelten Gegenstand, den ich vor mir hingestellt hatte. Mit den Zähnen riß es die Umhüllung auf.
Im Zwielicht waren seine Gesichtszüge kaum zu erkennen.
Es kam zu mir und nahm mich in die Arme. Es drückte die mächtigen Kiefer gegen mein Gesicht, holte aus seinem Vorratsmagen Wasser in seine Mundhöhle und gab mir Schluck für Schluck zu trinken. Auf ähnliche Weise übertrug es mir einen weichen Fleischbrocken, den es ebenfalls aus seinem Vorratsmagen heraufholte. Ich zwang mich dazu, den Brocken zu schlucken.
»Bist du der Medizinhelfer Kahintokapas?« fragte ich im Dialekt der Kaiila. »Bist du der Medizinhelfer des Mannes-der-vorausgeht?« wiederholte ich auf goreanisch.
»Ich bin Zarendargar«, tönte es auf goreanisch aus dem Übersetzungsgerät, »Kriegsgeneral der Kurii.«
33
Ich blickte zum Himmel auf.
»Beeil dich!« befahl ich dem Mädchen.
»Ja, Herr«, sagte sie und schnitt hastig Grasbrocken. Die Decke aus Ästen und Stäben über der Grube deckt man mit lebendigem Gras ab, um zu verhindern, daß sich die Begrünung innerhalb weniger Stunden verfärbt. Manchmal muß man zwei oder drei Tage lang im Loch ausharren.
Dieses Loch ist etwa zehn Fuß lang, fünf Fuß breit und vier Fuß tief. Es muß lang genug sein, um den Fesselstamm, den Jäger und manchmal auch den Köder zu beherbergen.
Wir hörten einen Schrei, der von einem Flieger zu kommen schien. Cuwignaka hatte aufgepaßt. »Runter!« sagte ich und drückte das Mädchen in das hohe Gras.
Fluchend blickte ich zum Himmel auf. Ein einsamer Tarnkämpfer, einer der Kinyanpi, flog nach Nordwesten.
Wir befanden uns in einem Gebiet, in dem auch die Kinyanpi so jagten, wie wir es vorhatten.
»Weitermachen!« sagte ich zu dem Mädchen, meiner Sklavin Mira.
Der Fesselstamm war letzte Nacht von zwei Kaiila hierhergezerrt worden. Den Aushub aus dem Loch hatten wir unter Büschen versteckt und im Gras verstreut.
»Fertig«, sagte das Mädchen und setzte den letzten Grasbrocken ein.
»Steig in die Grube!« sagte ich zu Mira.
»Ja, Herr.« Ich folgte ihr durch die Öffnung, die wir zum Ein- und Ausstieg gelassen hatten. Dann hockten wir uns gegenüber hin. Der Fesselstamm befand sich links von mir. Ich band das Mädchen mit dem rechten Fußgelenk an den Stamm fest. Eine viel dickere Lederleine war um den Stamm gewickelt und lag griffbereit auf dem Holz. Andere Lederseile lagen neben uns in dem Loch.
Ich blickte durch die Öffnung, die etwa achtzehn Zoll im Quadrat maß. Eine ähnliche, etwas kleinere Öffnung befand sich am anderen Ende der Vertiefung. Sie hatte ihren Zweck. Durch mein Fenster vermochte ich den Himmel und die Wolken zu sehen.
»Jetzt warten wir«, sagte ich.
»Ja, Herr.«
34
Licht fiel durch die Löcher in unsere Grube.
Ähnliche Vertiefungen wie die, in der wir saßen, allerdings viel kleiner, werden für den Fang des krallenfüßigen Herlit-Vogels verwendet, der vor allem wegen seines Gefieders geschätzt ist. Heute aber hatten wir es nicht auf Herlits abgesehen.
Nackt ausgestreckt lag das Mädchen vor mir, mit der langen Lederleine am Fesselstamm festgebunden.
»Still!« sagte ich nach langer Zeit. Ich hatte ein Geräusch vernommen.