»Irgend etwas muß für das Unglück verantwortlich sein, das dem Kinyanpi zugestoßen ist«, sagte ich.
»Da hast du recht.«
»Und das Wesen ist noch irgendwo da draußen.«
»Es war Wakanglisapa!« sagte Hci.
»Kannst du irgend etwas erkennen?« fragte ich.
»Nein«, antwortete Hci.
»Dann mach dir keine Sorgen!«
»Tatankasa«, sagte Hci.
»Ja?«
»Laß die Feder hier draußen zurück!« bat Hci.
»Nein«, sagte ich und stemmte mich mit vollem Gewicht in das Geschirr. Das Transportgestell rutschte leicht vorwärts. Der Tarn war zwar riesig, im Vergleich zu seiner Masse aber nicht schwer.
»Eine Frage verwirrt mich in dieser Sache noch«, sagte ich nach einer gewissen Zeit zu Cuwignaka. »Warum sollte ein Tarn, wenn es sich wirklich um einen Tarn gehandelt hat, einen Fliegenden angreifen? Das ist höchst ungewöhnlich.«
»Die Erklärung liegt in der Legende Wakanglisapas«, sagte Cuwignaka.
»Erzähl mir davon!« forderte ich.
»Es heißt, Wakanglisapa schätzt seine Federn und bewacht sie scharf, weil sie eine starke Medizin enthalten.«
»Ach?«
»Vielleicht hatte der Fliegende die Feder gefunden und trug sie bei sich, als Wakanglisapa sie sich zurückholen wollte.«
»Verstehe«, sagte ich.
»Wir fanden die Feder in der Nähe«, mutmaßte Cuwignaka. »Möglicherweise hat der Tarnreiter sie fallen lassen.«
»Denkbar wäre es«, sagte ich.
»Deshalb wollte Hci die Feder liegenlassen«, fuhr Cuwignaka fort.
»Ah.«
»Er fürchtet, Wakanglisapa könnte sich erneut auf die Suche danach machen.«
Ich erschauderte. »Siehst du etwas, Hci?« fragte ich.
»Nein«, antwortete er.
36
»Ich sage dir, er existiert!« behauptete Hci.
»Hast du ihn gesehen?« fragte ich.
»Nein«, antwortete er. »Mira hat ihn gesehen.«
»Sie ist doch nur Sklavin.«
Das Mädchen kniete zitternd neben unserem Zelt bei den Zwei Federn.
»Du warst mit Cuwignaka fort, um Tarns zu zähmen«, sagte sie erbebend. »Da raste er plötzlich wie ein riesiges schwarzes Ungeheuer schreiend herbei. Durch seinen Vorbeiflug wurden Blätter von den Bäumen gerissen.«
»Jetzt aber ist er fort«, stellte ich fest.
»Es gibt ihn wirklich, Tatankasa«, sagte Hci nachdrücklich. »Daß du dich da in nichts verrennst! Es gibt ihn wirklich.«
»Er ist nur ein Tarn«, sagte ich.
»Es ist Wakanglisapa, der Medizintarn«, sagte Hci.
»Ich glaube nicht an die Medizinwelt«, entgegnete ich. »Und somit nicht an die Existenz dieses Wesens.«
»Er verfolgt uns«, behauptete Hci. »Er sucht nach seiner Feder.«
»Das ist absurd!«
»Du mußt die Feder verschwinden lassen«, sagte Hci. »Bring sie wieder ins Ödland! Wirf sie fort, verbrenn sie! Sie ist gefährlich.«
»Vielleicht brauchen wir sie noch!«
»Laß sie verschwinden!« forderte Hci.
»Es ist doch nur eine Feder«, sagte ich.
»Neben der Feder Wakanglisapas gibt es keine stärkere oder gefährlichere Medizin«, sagte Hci. »Deshalb hat er sich auf die Suche danach gemacht.«
»Der Medizintarn existiert nicht«, sagte ich.
»Sie hat ihn aber gesehen!« rief Hci und deutete auf Mira, die vor Angst bleich geworden war.
»Du bist einer der mutigsten Männer, die ich je gekannt habe, Hci«, sagte ich. »Wie kommst du nur auf so verquere Gedanken? Wie kannst du dich so seltsam benehmen?«
»Tatankasa«, sagte er, »du weißt über Tarns mehr als ich. Benehmen sich diese Vögel normalerweise so?«
»Nein«, mußte ich einräumen. »Normalerweise nicht.«
»Dann ist es kein gewöhnlicher Tarn.«
»Ich weiß nicht, vielleicht hast du recht.«
»Erinnerst du dich an den Kinyanpi-Krieger?«
»Ja«, sagte ich erschaudernd.
»Das kann nur das Werk Wakanglisapas gewesen sein!«
»Wakanglisapa existiert nicht!«
»Ich habe keine Angst vor Menschen«, sagte Hci. »Ich habe keine Angst vor Dingen, die ich sehen kann, die ich bekämpfen kann.«
»Ich verstehe«, sagte ich.
»Dann laß die Feder verschwinden!«
»Ich glaube nicht an die Medizinwelt«, sagte ich.
»Ich weiß aber, daß sie existiert«, sagte Hci.
»Woher?«
»Weil ich einmal schlimm gelogen habe. Später, im Kampf wurde ich von meinem eigenen Schild verraten. Es wollte mir nicht gehorchen. Aus eigenem Antrieb stieg es empor und gab mich der Lanze meines Feindes schutzlos preis.«
»Ich weiß, was geschehen ist«, sagte ich. »Fremd ist uns dagegen der Grund. Solche Dinge sind nicht ganz unbekannt, nicht einmal den Ärzten aus den Städten. Es gibt Bezeichnungen für sie. Man versteht solche Erscheinungen noch nicht richtig, denn ihre Gründe liegen oft in rätselhaften Tiefen.«
»Der Schild stieg empor«, sagte Hci.
»Der Schild kann nicht allein aufgestiegen sein«, behauptete ich. »Dein Arm bewegte sich aufwärts.«
»Ich habe den Arm nicht gehoben!« rief Hci.
»Solche Bewegungen, über die wir keine Kontrolle haben, hängen zuweilen mit tieferliegenden Ursachen zusammen – beispielsweise mit Schuldgefühlen und der Überzeugung, daß gewisse Verhaltensweisen angemessen wären. Sie rühren von unmerklichen Vorgängen im Gehirn her. Ein Teil von dir liegt mit einem anderen im Widerstreit. Und zwar ohne daß du Einfluß darauf hast. So etwas kann erschreckend sein.«
»Der Schild stieg empor wie ein Mond«, sagte Hci.
»Zweifellos sah es so aus.«
»Er stieg auf, so fest und unaufhaltsam wie ein Mond.«
»Die Menschen begreifen Dinge in unterschiedlichen Überzeugungskategorien«, sagte ich. »Von einem Standpunkt aus könnte ein Ereignis auf die eine Weise interpretiert werden, von einer anderen Überzeugung aus aber ganz anders.«
»Das ist schwer zu verstehen«, sagte Hci.
»Weil du eben nur mit einer Überzeugungskategorie vertraut bist«, sagte ich, »und zwar der eigenen. So bist du es nicht gewöhnt, zwischen dem zu unterscheiden, was gewissermaßen interpretiert werden soll, und seiner Interpretation. Diese beiden Dinge neigen in deinem Denken dazu, zu einer Einheit zu verschmelzen – in diesem Fall zu der Überzeugung, daß dein Schild dich verraten habe.«
»Das hat er doch aber getan!« rief Hci.
»Schau empor«, sagte ich. »Siehst du die Monde?«
»Ja.«
»Siehst du nicht, wie sie durch den Himmel fliegen?«
»Das sind die Wolken, die sich im Wind bewegen«, sagte Hci, »und zwar in die andere Richtung. Deshalb sieht es so aus, als bewegten sich die Monde.«
»Schau noch einmal hin!«
Wieder kam Hci meiner Aufforderung nach.
»Kannst du die Monde fliegen sehen?« fragte ich.
»Ja«, antwortete er nach einer gewissen Zeit. »So könnte ich sie auch sehen.«
»Jetzt verstehst du sicher, daß es viele Möglichkeiten gibt, etwas Gesehenes zu deuten.«
»Das verstehe ich«, sagte Hci. »Sind sämtliche Deutungen gleichwertig?«
»Nein«, antwortete ich, »die meisten sind vermutlich falsch.«
»Woher wissen wir, wenn wir die eine wahre Erklärung gefunden haben?«
»Dessen können wir wohl niemals ganz sicher sein«, erwiderte ich. »Dazu gibt es wohl zu viele theoretisch mögliche Erklärungen.«
»Interessant.«
»Wenn man nicht beweisen kann, daß eine Erklärung absolut zutrifft, heißt das noch lange nicht, daß sie nicht doch stimmen könnte.«
»Das verstehe ich«, sagte Hci. »Weißt du ganz genau, daß die Medizinwelt nicht existiert?«
»Ich nehme nicht an, daß es sie gibt«, sagte ich.
»Weißt du, daß sie nicht existiert?« fragte Hci.
»Nein«, antwortete ich, »ich weiß nicht, daß sie nicht existiert.«
»Vielleicht gibt es sie also.«
»Vielleicht, aber ich weiß es nicht.«
»Du glaubst nicht daran.«
»Nein«, antwortete ich.
»Ich glaube aber, daß es sie gibt«, sagte Hci.
»Verstanden.«
»Vielleicht ist dann ja deine Erklärung falsch – und nicht meine.«
»Vielleicht.«
»Wir befinden uns hier im Ödland«, sagte er.