»Da hast du recht.«
»Vielleicht liegen die Dinge hier nicht so wie in deiner Heimat«, sagte er.
»Vielleicht.« Vermutlich war es tatsächlich eine Glaubenssache anzunehmen, die Natur müsse einheitlich sein – ein vernunftgestützter Glaube, doch gleichwohl ein Glaube. Kein Zweifeclass="underline" Das Universum war riesig und rätselhaft. Vielleicht war es gar nicht verpflichtet, sich nach unseren Vorlieben zu richten. Wenn es unseren Grenzen zu entsprechen schien, so lag das vielleicht daran, daß wir es nur innerhalb dieser Grenzen überhaupt erfassen konnten. Ahnungslos mochten wir inmitten von Dimensionen und Wundern leben, Dingen, die unsere Werkzeuge nicht zu erreichen vermochten, an die unsere Phantasie, unser Intellekt nicht heranreichte, die zu fremd waren, um sie zu erfassen. Aber dennoch – was für kühne, tollkühne Mäuse wir doch waren! Wie edel ist doch der Mensch!
»Du bist entschlossen, die Feder zu behalten?« fragte Hci.
»Ja«, sagte ich. »Begleitest du uns heute nacht?«
»Wakanglisapa könnte unsere Pläne zunichte machen«, sagte er.
»Unsinn! Kommst du mit?«
»Ja.«
»Wir müssen bald aufbrechen.«
»Ich habe vorher noch etwas zu erledigen«, sagte er.
»Und das wäre?«
»Mein Todeslied zu singen«, sagte er.
37
»Schneller!« rief ich vom Rücken meines Tarn. »Beeil dich!«
»Sinnlos!« brüllte Hci, der einige Meter von mir entfernt flog, ebenfalls auf einem Tarn; wir rasten etwa zweihundert Meter über dem weiten, gewellten Grasland dahin. Rechts von mir trieb auch Cuwignaka seinen Vogel zur Eile an.
»Sie holen auf!« brüllte Hci. »Sie werden uns abfangen!« Es war eine halbe Ahn nach Beginn der Morgendämmerung.
Ich schaute über die Schulter nach hinten. Fünf Reiter, Angehörige der Kinyanpi, verfolgten uns erbarmungslos. Wir hörten ihre Kriegsrufe.
Was unseren Flug langsam machte, waren die Zügel, die wir umklammert hielten. Hinter jedem von uns, durch Halsleinen miteinander verbunden, flatterten fünf Tarns, insgesamt fünfzehn Tiere. Die Vögel der Kinyanpi waren bei Nacht nicht gut bewacht gewesen. In der Nähe eines Lagers der Gelbmesser, die ihre Verbündeten waren, inmitten von Stämmen, die sich mit Tarns nicht auskannten, hatten sie sich sicher gefühlt. Wir nahmen nicht an, daß sich diese Nachlässigkeit noch einmal wiederholen würde.
Eine weißhäutige Sklavin, die aus einem der Gelbmesserzelte verbannt worden war, hatte uns gesehen und Alarm geschlagen. Im Mondlicht hatte ich sie sogar wiedererkannt – eine kurzbeinige, hübsch gerundete Blondine, eine ehemalige Amerikanerin. Sie hatte einmal in Grunts Besitz gestanden und damals den Namen Lois getragen. Nach dem Überfall auf Alfreds Wagenzug war sie von Gelbmessern als Beute mitgenommen worden; überhaupt hatte Grunt zu dieser Zeit fast seinen gesamten Bestand an Mädchen eingebüßt.
»Wir haben genug Tarns; mehr könnten wir gar nicht bewältigen«, hatte ich zu Cuwignaka und Hci gesagt und dem letzten Vogel die Zügelschlaufe über den Schnabel geschoben. »Laßt uns verschwinden!«
Am liebsten hätten wir die Tarns ein Stück vom Lager fortgeführt, ehe wir uns in die Lüfte schwangen, aber dazu blieb nach dem Geschrei der Sklavin keine Zeit mehr. So waren wir sofort aufgestiegen, und das Kreischen der Vögel und ihr lauter Flügelschlag hatten das Lager der Gelbmesser und Kinyanpi noch munterer gemacht. Dabei waren wir vor dem Licht der Monde sicher deutlich auszumachen.
Es wollte uns scheinen, als wäre das Lager kaum unter uns fortgesunken, als sich bereits rote Tarnkämpfer in die Lüfte schwangen und überstürzt die Verfolgung aufnahmen. Fünf waren uns ganz nahe, aber sie verfolgten uns auf keinen Fall allein.
»Wir können ihnen nicht davonfliegen!« rief Hci.
Wieder blickte ich über die Schulter. Unsere Verfolger hatten noch weiter aufgeholt.
»Näher heran!« rief ich Hci zu. Als er meiner Aufforderung nachkam, warf ich ihm die Tarnleine zu, die ich in der Hand hielt; das geflochtene Leder fiel über den Rücken seines Tarn, und er griff danach und wickelte sie sich um die Faust.
»Ich drehe um!« rief ich. »Fliegt allein weiter!«
»Wir geben die Tarns frei!« rief Cuwignaka.
»Nein!« widersprach ich.
»Wir drehen auch um und kämpfen mit dir!« rief Hci.
»Nein!« brüllte ich zurück. »Bringt die Tarns ins Lager! Wir brauchen sie!«
»Nein!« rief Cuwignaka.
»Ihr bringt jetzt nicht alles in Gefahr!« rief ich. »Ihr fliegt weiter!«
»Tatankasa!« rief Cuwignaka.
»Die Kaiila müssen leben!« sagte ich.
»Tatankasa!« rief auch Hci.
»Ich habe einen Plan!« rief ich. »Fliegt, fliegt!« Ich brach die Diskussion mit meinen Freunden ab und wendete den Tarn, indem ich heftig an den Zügeln zog. Das Tier schlug die breiten Flügel und verharrte beinahe reglos in der Luft. Unter dem Sitzgurt zog ich einen Gegenstand hervor, den ich dort zuvor deponiert hatte. Es war die große schwarze Feder, die ich vor Tagen in der Nähe der Tarnfalle erhalten hatte, die Feder, die meinem Freund Hci so große Sorgen bereitete. Nun schwenkte ich sie über dem Kopf; dabei hielt ich sie in der Mitte wie einen Speer oder ein Banner.
Diese Feder, so hoffte ich, würde den Kinyanpi noch mehr Angst einflößen als Hci.
Mit solchen Federn waren sie, die Kinyanpi, hoffentlich allzu vertraut.
Der Glaube an die Medizinwelt, darauf zielte ich ab, würde den Verstand der Kinyanpi ebenso fesseln, wie er anscheinend das Denken so vieler roter Wilder verwirrte, Freunde und Feinde gleichermaßen.
Im Abstand von etwa fünfzig Metern zog der Kinyanpi-Anführer plötzlich seine Tarnzügel an und ließ den Vogel auf der Stelle verharren. Seine Begleiter machten es ihm nach. Er deutete auf mich. Die Männer berieten sich lautstark durch das Rauschen der Flügel.
Ich hielt die Feder empor, beinahe schwenkte ich sie. Die Männer sollten wissen, woran sie waren.
Ich griff nicht nach meinen Waffen. Wozu brauchte ich Waffen, wenn ich über die Medizin Wakanglisapas gebot? Und welche Medizin oder Waffen hatten eine Chance dagegen?
Die Reaktion des Kinyanpi-Anführers schien allerdings mehr überrascht als ängstlich gewesen zu sein. Er benahm sich beinahe, als sei er bei einer Unaufmerksamkeit ertappt worden; dabei hatte ich auf Entsetzen gehofft. Leider sollte es dazu nicht kommen.
Die Vögel, deren Flügel auf und nieder peitschten, die mit beinahe senkrecht stehendem Rücken verhielten, die Männer vorgebeugt unter den Gurten, boten einen prächtigen Anblick.
Ein Umstand freute mich. Jeder Augenblick war kostbar. Cuwignakas und Hcis Vorsprung erhöhte sich immer mehr.
Zu meiner Bestürzung mußte ich sodann beobachten, wie die fünf Tarnreiter ihre Waffen zur Hand nahmen. Offensichtlich wollten sie angreifen.
Es waren mutige Männer.
Außerdem hatte ich mich wohl verrechnet. Wenn die Feder nicht Wakanglisapa gehörte, würden sie annehmen, daß sie nichts zu fürchten hatten. Und wenn es Wakanglisapas war, warum sollten sie nicht versuchen, sie zu erobern, die starke Medizin für sich zu gewinnen?
Die fünf Kämpfer verließen ihre Formation, indem sie zur Seite ausschwärmten und zu kreisen begannen, um Tempo zu gewinnen, und nach kurzer Zeit hatten sie ihre Tiere wieder auf Angriffskurs gebracht.
Zornig steckte ich die Feder unter den Sitzgurt. Sie hatte mir wirklich viel genützt! Hastig spannte ich meinen kleinen Bogen und zog drei Pfeile aus dem Tabukleder-Köcher an meiner linken Hüfte. Einen Pfeil setzte ich auf die Sehne, zwei hielt ich mit der Bogenhand.
In schnellem Flug kamen die Angreifer näher.
Die Formation erinnerte an einen mathematischen Körper – der Frontreiter würde bis auf Lanzenreichweite an mich herankommen. Die anderen vier flogen ein Stück hinter ihm, links und rechts, oberhalb und unterhalb. Egal wie man dem ersten Reiter ausweicht, die Wahrscheinlichkeit ist groß, daß man zumindest einem dem nachfolgenden Angreifer einen verwertbaren Vorteil verschafft.
Unter Ausnutzung der Geschwindigkeit wollte ich versuchen, möglichst schnell durch die Formation zu stoßen und beim Passieren über die linke Schulter zu schießen.