»Nein!« schrie Iwoso bei diesem Anblick. »Nein!«
In diesem Augenblick wurden einige Zelte unseres Lagers umgeworfen, und Männer zerrten kleine Transportgestelle hervor, die mit Steinen beladen waren. Andere begannen größere Felsen auf den Rand des Abgrunds zuzurollen.
Bis jetzt hatten wir noch keinen Streich ausgeteilt; gleichwohl schätzte ich die Verluste des Gegners bereits auf gut hundertundfünfzig: Opfer jenes steilen Weges. Nun begann der tödliche Steinhagel; die größeren oder kleineren Geschosse konnten ihre Ziele gar nicht verfehlen. Sie trafen wuchtig auf das Gewirr der Tiere und Menschen hier und dort auf dem Weg. Einige größere Steine taten ihr Werk sogar mehr als einmal; sie fegten Männer oder Kaiila vom Pfad und polterten dann weiter den Hang hinab, um auf einer tiefer liegenden Wegkehre weitere Verwüstung anzurichten.
Die Gelbmesser hoben ihre Schilde, was ihnen aber nicht viel nützte, weil die stürzenden Brocken eine zu große Durchschlagskraft entwickelten. Männer wurden vom Rücken ihrer Kaiila gestoßen. Tiere gerieten völlig in Panik.
Entsetzt beobachtete Iwoso die Szene.
Das verzweifelte Schrillen der Kriegspfeifen vom unteren Teil des Weges hatte endlich die gewünschte Wirkung. Langsam rückten Gruppen von Gelbmessern zurück und ermöglichten es den weiter oben festsitzenden Kampfgenossen, sich langsam zu lösen. Steinsalven und Felsbrocken machten ihnen den Rückzug allerdings schwer.
Die Barrikade am oberen Ende des Weges wurde sogar kurz zur Seite geschoben, um einen ganz besonders großen Felsbrocken hindurchzulassen. Dieser rollte den Weg hinab. Die Nachhut der zurückweichenden Angreifer sah die Masse Gestein unaufhaltsam auf sich zupoltern. Der Felsbrocken fegte etwa zwölf Mann mit in die Tiefe, hüpfte die Felswand hinab und landete mit unglaublicher Wucht inmitten herumwirbelnder Gelbmesser auf der Prärie am Fuße des Berges.
Iwoso blickte Hci von der Seite an.
Die Steine waren in den letzten Tagen gesammelt und auf den Ratsfelsen gebracht worden. Hiervon hatten die Mädchen in ihrem Gefängniszelt natürlich nichts mitbekommen.
»Der Weg wird geräumt«, sagte Cuwignaka. »Meinst du, sie ziehen sich zurück?«
»Nein«, antwortete ich.
»Wo stecken die Soldaten?« wollte Cuwignaka wissen.
»Sie müssen irgendwo sein.«
»Schau«, sagte Hci und deutete nach unten.
Ein einzelner Gelbmesser mit bemaltem Oberkörper und einem Kranz aus Herlitfedern auf dem Kopf lenkte seine Kaiila den Weg herauf.
»Ein mutiger Mann«, sagte Cuwignaka.
Kurze Zeit später ritt der Reiter, seine Medizin singend, unter uns vorbei. Er verzichtete darauf, seinen Schild zu heben.
»Ich erkenne ihn«, sagte Cuwignaka. »Er ist einer der Kriegshäuptlinge, die mit Watonka verhandelt haben.«
»Richtig«, antwortete ich. Drei solcher Häuptlinge waren im Kaiila-Lager gewesen. Einer war beim ersten Angriff gefallen.
Mahpiyasapa gab keinen Schießbefehl. Damit respektierte er nicht nur den Mut des Mannes, sondern gestattete ihm auch, die Lage auszukundschaften. Die Gelbmesser sollten zu einer bestimmten Form des Angriffs ermutigt werden.
Wenige Meter vor der blutigen Barriere zügelte der Mann seine Kaiila.
Dann wendete er sein Tier ohne Eile und verhielt in der Bewegung. Er hatte die Mädchen an ihren Pfählen entdeckt. Während er Bloketu kaum beachtete, verweilte sein Blick eine Weile auf Iwoso. Sein Gesicht blieb ausdruckslos. Langsam, Medizin singend, setzte er dann seinen Abstieg fort.
»Er ist wütend! Ausgezeichnet!« Hci wandte sich an Iwoso. »Sie werden nun besonders heftig kämpfen, um dich zu retten!«
Vergeblich bäumte sich das Mädchen in den Fesseln auf.
»Ich glaube nicht, daß sie noch einmal beritten angreifen werden«, sagte Cuwignaka, und er sollte recht behalten.
Etwa eine Ahn später, zur Mittagszeit, entdeckten wir drei- bis vierhundert Gelbmesser, die langsam zu Fuß den Pfad erklommen.
»Jetzt ist es um euch geschehen«, sagte Iwoso.
Zur Verteidigung verfügten wir nur über etwa zweihundert Mann, alles was wir nach der Schlacht um das Sommerlager an versprengten Bandengruppen hatten finden können.
»Die Gelbmesser sind in der Übermacht!« rief Iwoso begeistert. »Sie werden eure Barriere erstürmen, die Verteidiger niederkämpfen und dann euch töten!«
»Ich glaube nicht, daß einer von ihnen die Barriere erreicht«, sagte Hci zuversichtlich.
»Was meinst du damit? Was tut ihr?« rief Iwoso und versuchte um den Pfahl nach hinten zu schauen, was ihr wegen der Fesselung nicht gelang.
Aus Zelten, die am Rand des Abgrunds standen, wurden weitere Transportgestelle geholt, auf denen riesige Pfeilbündel lagen, Hunderte von Pfeilen in jedem Gebinde. Viele Pfeile waren nicht gut ausgearbeitet, den meisten fehlten sogar Spitzen und Leitfedern. Doch auf kurze Distanz von den starken Bögen der Wilden abgefeuert, konnten sie gleichwohl gefährlich werden. Krieger, Frauen und Kinder hatten viele Tage gebraucht, sie zu fertigen.
»Du mußt nicht nur an die Zahl der Krieger denken, Iwoso«, sagte ich, »sondern auch an die Schußkraft.«
Erstaunt blickte sie auf eines der riesigen Pfeilbündel, das neben ihr abgeladen wurde.
»Manchmal«, fuhr ich fort, »gibt es kaum einen Unterschied zwischen zehn Männern, die jeweils einen Pfeil besitzen, und einem Mann, der zehn Pfeile verschießen kann.«
Hci und Cuwignaka machten ihre Bögen schußbereit.
Auf Mahpiyasapas Kommando sirrten Hunderte von Pfeilen talwärts. Im Nu waren die Schilde der Gelbmesser von Pfeilen gespickt, doch boten die kleinen Flächen kaum Schutz. So mußten die Gelbmesser schnell erkennen, daß sie keinem gewöhnlichen Pfeilhagel ausgesetzt waren, einem Schauer, der schnell vorüberging, sondern etwas Neuem, einer gefährlichen Erfahrung. Einer der Männer verlor prompt die Nerven und ergriff die Flucht, und man ließ auch noch die nächsten beiden fliehen. Dies ermutigte die Gelbmesser, und die ganze Horde machte kehrt; auf dem Weg wimmelte es plötzlich von Männern, die nur noch an Flucht dachten. Sie gaben ausgezeichnete Ziele ab.
»Siehst du die Gelbmesser?« wandte sich Hci an Iwoso. »Sie fliehen wie Urts.«
»Du bist schrecklich!« tobte Iwoso. »Keine Frau könnte dich je lieben. Ich hasse dich! Ich hasse dich!«
»Was werden die Gelbmesser deiner Ansicht nach jetzt tun?« fragte Cuwignaka.
»Ich glaube, sie werden ein Lager aufschlagen und unsere Position überprüfen.«
»Ich wollte lieber sterben, ehe ich deine Sklavin würde!« rief Iwoso schluchzend.
»Dort sind Alfred und seine Offiziere«, sagte ich und deutete mit dem Finger. »Zweifellos erhalten sie soeben einen umfassenden Lagebericht.«
»Siehst du die Ungeheuer?« wollte Cuwignaka wissen.
»Wahrscheinlich halten sie sich mit den Söldnern im Hintergrund«, erwiderte ich. »Schau!« fügte ich hinzu. »Sie gehen auf Patrouille. Das hätte schon längst passieren müssen.«
Alfred, seine Offiziere und mehrere Gelbmesser ritten langsam nach Süden.
»Sie werden unsere Position genau erkunden«, sagte Cuwignaka.
Ich nickte. Kurze Zeit später bogen die Reiter nach Osten ab und begannen unsere Position zu umreiten. Alfred, der ein guter Soldat war, würde sich gründlich orientieren.
»Die Gelbmesser haben große Verluste erlitten«, sagte Hci. »Ich fürchte fast, sie werden sich zurückziehen.«
»Ich nehme es nicht an«, sagte ich. »Inzwischen sind ja die Soldaten zur Stelle. Außerdem dürfen wir ihr Vertrauen in die Ungeheuer nicht vergessen.«
»Ich habe von Anfang an meine Bedenken gehabt«, sagte Hci. »Welchen Wert hat eine Falle, aus der sich der in der Falle Sitzende zurückziehen kann?«
»Ohne fremde Hilfe können wir diese Falle nicht schließen«, sagte Cuwignaka.
»Vielleicht kommen sie ja gar nicht«, sagte Hci.
»Möglich«, meinte Cuwignaka.
»Wovon redet ihr?« fragte Iwoso.