Ich wandte mich zu ihr um. »Wir sind nicht die Falle«, sagte ich, »sondern der Köder.«
»Ich verstehe das nicht«, sagte sie.
Hci trat vor sie hin. »Wenn sie sich zurückziehen, müßtest du alle Hoffnungen fahren lassen.«
»Und was würde dann mit mir geschehen?« fragte sie.
»Du bist ziemlich hübsch. Würdest du gern meine Sklavin sein?«
»Keine Frau könnte dich lieben! Ich könnte niemals deine Sklavin sein. Eher würde ich sterben!«
Er hob die Hand an die Seite ihres Gesichts.
»Faß mich nicht an!« fauchte sie.
Seine Hand verharrte einen Zoll von ihrer Wange entfernt und berührte sie dann leicht.
Ein Schaudern durchlief sie, eine Reaktion, die ihren ganzen Körper erfaßte, vom Kopf bis zu den Zehen.
»Glaubst du, die Gelbmesser greifen heute noch einmal an?« fragte Cuwignaka später.
»Ich nehme es nicht an.«
Von Zeit zu Zeit blickte ich zu Iwoso hinüber, die anscheinend den Blick nicht mehr von Hci losreißen konnte. Sie war seine Sklavin. Ich fragte mich, ob ihr diese Erkenntnis bereits gekommen war.
»Dort ist der weiße Offizier«, sagte Cuwignaka. »Anscheinend hat er seinen Rundritt beendet.«
Tief unter uns kehrten Alfred und seine Begleiter ins Lager der Gelbmesser zurück.
»Hat er Schwächen in unserer Verteidigungsstellung gefunden?« fragte Cuwignaka.
»Er wird es sich jedenfalls einbilden«, sagte ich. Auch ich hatte mir den Ratsfelsen aus den verschiedensten Perspektiven genau angesehen; so manches, was sich aus der Ferne als leicht einnehmbar ausmachte, war ein nicht zu überwindendes Hindernis.
»Wollen wir hoffen, daß er sich irrt«, sagte Cuwignaka.
»Abgesehen von dem Hauptweg«, sagte ich, »führt keine leichte Route auf den Gipfel des Ratsfelsens.«
»Aber man kann ihn erklettern«, sagte Hci. »Es wäre nicht das erstemal.«
»Ja«, sagte ich, »aber unsere Feinde werden feststellen, daß das schwierig und gefährlich ist.«
40
Ich spürte Cuwignakas Hand an der Schulter und öffnete die Augen.
»Die ersten haben den Gipfel beinahe erreicht«, meldete er.
»Wir lassen einige heraufkommen, um die anderen zu ermutigen«, sagte ich. »Dann schlagen wir zu.«
Ich lief durch die pechschwarze Nacht und nahm meine Position ein.
»Entzündet die Ballen!« brüllte ich schließlich.
Ganz in meiner Nähe schob sich ein Arm über die Felskante. Ein verzerrtes Gesicht erschien. Hci stieß den Mann zurück und ließ ihn in die Tiefe stürzen.
Eine Fackel wurde gebracht. Ihre Flammen ließen die riesigen Zweigbündel auflodern, die wir an der Felskante bereitgestellt hatten. Ihr Licht erhellte die Angreifer, die wie Insekten in den Felswänden hingen. Sie waren unseren Angriffen wehrlos ausgesetzt.
»Ich hörte Geschrei gestern nacht«, sagte Iwoso. »Oh!« rief sie.
Ich zog die Fessel an, die sie an den Pfahl band. Neben ihr war Bloketu bereits festgemacht, wie gestern. Die Morgendämmerung hatte eingesetzt.
»Was tragen die denn da?« fragte Hci und schaute in die Tiefe.
»Sieht aus wie große Schutzschilde«, antwortete ich. »Wahrscheinlich aus Ästen und Leder gefertigt. Solche Gebilde konnten den größten Teil unserer Pfeile ablenken.«
»Einige Soldaten rücken mit vor«, stellte ich fest.
»Ja«, sagte Hci.
»Siehst du irgendeine Spur von den Ungeheuern?« fragte ich.
»Nein.«
»Laß mich frei!« forderte Iwoso. »Eure Position ist unhaltbar, zumal jetzt Söldner mit angreifen. Erbittet das Privileg, euch ergeben zu dürfen. Vielleicht behalten dann einige von euch das Leben.«
»Was hat denn Iwoso heute früh?« fragte Hci.
»Ich glaube nicht, daß sie den Verstand verloren hat«, sagte ich. »Vielmehr habe ich das Gefühl, daß sie gestern gezwungen war, einen Blick in ihr tiefstes Inneres zu werfen und dort Dinge entdeckte, die ihr Angst machen. Jetzt versucht sie dagegen anzukämpfen. Sie ist nicht bereit, diese erstaunlichen, alarmierenden Einsichten zu akzeptieren – heute will sie dafür um so härter erscheinen.«
»Interessant«, sagte Hci und trat vor Iwoso hin.
»Sie kommen den Weg herauf«, meldete Cuwignaka.
Etwa fünfhundert Gelbmesser und ungefähr fünfzig Söldner rückten langsam zum Gipfel vor. Einige hielten die Abschirmung zwischen sich und uns. Andere bewegten sich in diesem Schutz.
»Die Prärie scheint im Westen leer zu sein«, sagte ich.
»Ja«, antwortete Cuwignaka.
»Sie passieren die erste Barrikade«, bemerkte Hci. Es war eine Barrikade, die wir gestern weiter unten am Weg in Position gesenkt hatten, um die Umkehr von Kaiila zu erschweren. Sie wurde nicht verteidigt und bildete für Infanteristen kein unüberwindliches Hindernis.
Unsere etwa zweihundert Mann teilten sich in fünf Gruppen. Zwei dieser Gruppen, jeweils etwa vierzig Mann umfassend, waren in der Nähe der Gipfelbarriere stationiert. Eine dieser Gruppen, befehligt von Mahpiyasapa, hatte Verteidigungsaufgaben übernommen. Angesichts der Enge des Weges konnte diese kleine Truppe einer Übermacht ohne weiteres standhalten. Die zweite Gruppe auf dem Gipfel schien nach außen hin eine Reserve zu sein, um die Barrikade zu verstärken, wo immer es nötig war. In Wirklichkeit aber handelte es sich um eine zweite Angriffsgruppe. Es gab drei andere Gruppen von jeweils vierzig Mann, die ebenfalls besondere Aufgaben zu erfüllen hatten.
Kurze Zeit später kamen die Gelbmesser und die Söldner unter unserer Position vorbei und stürmten auf die Barrikade los.
»Mahpiyasapas Männer halten die Stellung«, sagte Hci.
Ich nickte. Zumindest eine gewisse Zeit würden die Verteidiger keine Mühe haben, die Angreifer in Schach zu halten.
»Die Gegner stehen günstig für unseren Plan«, sagte ich. »Sie scheinen sich erwartungsgemäß auf die Barrikade zu konzentrieren.«
Hci, Cuwignaka und ich hasteten am Rand des Abgrunds entlang und schlossen uns einer Gruppe an, die dort bereits auf uns wartete. Hci hob die Hand und senkte sie wieder. Die vierzig Mann unserer Gruppe, zu der auch Cuwignaka und ich gehörten, packten Seile, die am Rand lagen und von Mitgliedern der vierten Gruppe gehalten wurden, und ließen sich auf den unter uns vorbeiführenden Weg hinab. Dort fielen wir von hinten über die Gelbmesser her.
Die Gegner fuhren erstaunt herum, versuchten sich auf die neue Situation einzustellen.
»Zurück!« brüllte Hci im richtigen Augenblick.
Hastig liefen wir den Weg hinab.
Erfreut nahmen die Gelbmesser die Verfolgung auf.
Im gleichen Moment stieg unsere fünfte Gruppe fünfzig Meter hinter uns an Seilen den Hang herab; sie stand unter dem Kommando eines Napoktan-Kriegers namens Waiyeyeca. Die Männer hatten sich Lanzen auf den Rücken geschnallt. Kaum hatten sie sich mit uns vereint, lösten sie die Lanzen und stemmten sie schräg gegen den Boden. Wir machten kehrt und hielten die Position. Nachstürmende Gelbmesser wurden hilflos gegen die Lanzen gedrückt. Mit achtzig Mann hielten wir unsere Position, was auf dem schmalen Weg nicht schwer war. Knüppel, Schilde und Messer kamen ins Spiel. Über die verlassene Barrikade rückte unsere zweite Gruppe nach, die sich bisher in Bereitschaft gehalten hatte. Sie trat gegen die Gelbmesser auf dem Weg an, die hoffnungslos in der Klemme steckten, zumal nun noch unsere vierte Gruppe oben am Rand des Abgrunds erschien und mit Pfeilen gezielt auf die Angreifer Jagd machte; diese vierte Gruppe unter dem Kommando Kahintokapas von den Gelben Kaiila-Reitern hatte uns zuvor die Seile gehalten. Übrigens diente in dieser Gruppe ein blonder Jüngling, ehemals ein Waniyanpi, der den Namen Wayuhahaka angenommen hatte, ›Mann-der-viel-besitzt‹.
Zahlreiche Gelbmesser sahen ihre Unterlegenheit ein und wälzten sich über den Rand und glitten den Felshang hinab. Der eine oder andere mochte diese Flucht sogar überleben. Es dauerte nicht lange, bis unsere Gruppen die Gegner völlig verdrängt und sich vereinigt hatten. Über die Seile brachten wir uns wieder auf dem Gipfel in Sicherheit, ehe nachrückende Kaiila-Reiter, die untere Barrikade in die Tiefe stürzend, zu uns aufrücken konnten. Die Verfolger wurden von einem Pfeilhagel empfangen, dem viele Reiter zum Opfer fielen. Darunter auch der zweite Kriegshäuptling der Gelbmesser. Er würde keine Medizin mehr singen.