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»Ich glaube, sie werden zur Mittagszeit vorrücken«, sagte Cuwignaka.
Wir schrieben den dritten Tag der Belagerung am Ratsfelsen.
Gestern nachmittag hatten wir Kinyanpi gesichtet. Gestern nacht hatten wir ein großes Feuer entzündet, das weit über die Prärie sichtbar gewesen sein mußte.
»Auf sich allein gestellt«, sagte Hci, »hätten sich die Gelbmesser schon nach dem ersten Tag zurückgezogen. Ich kann mir aber kaum vorstellen, daß die Disziplin der Söldner bei ihnen noch lange wirken kann.«
»Sicher haben sie inzwischen die Unterstützung der Kinyanpi gewonnen«, sagte ich.
»Kinyanpi allein genügen nicht, um sie wieder vor die Barrikaden zu treiben«, sagte Hci.
»Du meinst also, es wird nur noch einen großen Angriff geben?«
»Den entschlossensten von allen«, sagte Hci ernst.
»Und wer würde den führen?«
»Natürlich die Ungeheuer«, sagte ich.
»Es ist beinahe Mittag«, sagte Cuwignaka und blickte zum Himmel auf.
»Ich höre Trommeln, Medizintrommeln. Söldner verlassen das Lager. Sie reiten nach Süden.«
»Interessant«, bemerkte Hci.
»Dort, ein Kinyanpi!« rief Cuwignaka und deutete in die Höhe.
»Sicher ein Kundschafter«, meinte Hci.
»Es tut sich etwas im Gelbmesserlager«, sagte ich.
»Sie kommen.«
»Wer führt sie an?«
»Die Ungeheuer«, sagte ich. »Das Ungeheuer, das ganz vorn geht, heißt Sardak. Dicht bei ihm geht Kog.«
»Sie sehen gefährlich aus«, sagte Cuwignaka.
»Bestimmt kommen sie aus der Medizinwelt«, meinte Hci.
»Sie rechnen damit, daß die Gegner sich ergeben, nur weil sie erscheinen«, sagte Cuwignaka verbittert.
»Sie bluten und sterben wie Menschen«, sagte ich zu Hci.
Ein Mann eilte am Rand des Abgrunds auf uns zu. »Söldner, die sich angeseilt haben, ersteigen die Rückseite des Bergs!« rief er.
»Aha, ein koordinierter Angriff«, sagte Cuwignaka.
»Dann müssen wir bald mit den Kinyanpi rechnen«, meinte ich.
»Es ist aus mit euch!« rief Iwoso. »Ihr seid verloren!«
»Schaut!« rief Hci plötzlich und deutete nach oben.
Auf dem Bergpfad hörten wir das dumpfe Dröhnen der von den Medizinmännern geschlagenen Trommeln. Hinter den Ungeheuern rückten die Gelbmesser vor.
»Schau!« rief Hci.
Am Himmel war ein Tarn aufgetaucht.
Mein Herz machte einen Sprung.
»Wir sind verloren!« rief Hci.
Ringsum schrien Männer auf und warfen die Hände vor die Gesichter.
Wir duckten uns nieder, um nicht von den Turbulenzen der mächtigen Flügelschläge in die Tiefe gerissen zu werden. Und schon war das Monstrum zwischen uns gelandet.
»Das ist Wakanglisapa!« rief Hci. »Wakanglisapa, der Medizintarn!«
Langsam näherte ich mich dem Tier, streckte die Hand aus und berührte seinen Schnabel. Dann nahm ich seinen Kopf in die Hände und ließ meinen Tränen freien Lauf. »Sei gegrüßt, Ubar des Himmels!« sagte ich. »Wir sind endlich wieder zusammen!«
»Im Osten ist eine Wolke aufgetaucht«, meldete ein Mann. »Sie ist klein und schnell.«
»Das sind die Kinyanpi«, sagte ich. »Mein Freund ist ihnen vorausgeflogen.«
Männer schauten sich an.
»Bringt einen Sitzgurt und Zügel«, sagte ich. »Und öffnet die Zelte, die unsere Tarns verhüllen. Wir müssen unsere Besucher empfangen.«
Männer eilten fort.
Gestern nacht war auf dem Gipfel des Ratsfelsens ein großes Feuer entzündet worden – das erste von zehn ähnlichen Signalfeuern. Mit ihrer Hilfe waren im Laufe der Nacht, in Gruppen zu zweit oder dritt, unsere Tarns auf den Ratsfelsen geholt worden, ohne daß unsere Gegner etwas bemerkt hätten. Wir verfügten über achtzehn Flugvögeclass="underline" den Kinyanpi-Tarn, der auf der Ebene zu uns gekommen war, die beiden wilden Tarns, die wir mit der Tarnfalle fangen konnten, und die fünfzehn, die wir bei unserem Überfall erbeuteten. Diese Tarns hatten wir von Zwei Federn aus in das Waniyanpi-Gehege bringen lassen, das von Kürbis befehligt wurde. Dort, bei Tag versteckt und bei Nacht trainiert, in Reichweite des Ratsfelsens, hatten die Tiere unser Signal erwartet.
Ich legte dem großen schwarzen Tarn den Sitzgurt an und befestigte die Zügel.
Das Trommelrasseln auf dem Weg kam näher.
»Die Söldner an der Ostwand sind dem Gipfel nahe«, meldete jemand.
»Wehrt sie ab, so gut es geht!« sagte ich.
Zelte wurden umgestoßen, Tarns kamen in Sicht.
Ich sprang auf den Rücken meines Ubars des Himmels. Man reichte mir meine Waffen.
Canka, Hci und Cuwignaka eilten ebenfalls zu ihren Tarns.
Der Ubar des Himmels wartete mein Zeichen nicht ab, sondern streckte den Hals und stürmte in die Lüfte.
»Ko-ro-ba!« brüllte ich und nannte damit den Namen der Stadt, die auf Gor meine erste Station gewesen war, Ko-ro-ba, die Türme des Morgens.
Der Tarn schrie.
Der Flugwind zerrte an meinem Haar. Die Federn an meiner Temholz-Lanze flatterten wie Flaggen.
Ich hörte andere Tarns hinter mir schreien, vernahm ihren Flügelschlag. Der Ratsfelsen sackte unter mir fort.
Wie ein dunkler Pfeil schnitt der große schwarze Tarn durch den Himmel.
Abrupt drangen wir in die Formation der verblüfften Kinyanpi ein. Mit Widerstand aus der Luft hatten sie nicht gerechnet; überhaupt hatten sie die Initiative des Kampfes behalten wollen.
Meine Lanze schmetterte einen Reiter von seinem Tier. Mit meinem kleinen Schild lenkte ich einen Lanzenstoß ab, während mein Ubar des Himmels über einen Artgenossen herfiel. Dann stieg mein Tier empor. Ringsum und unter uns wirbelten Tarns durcheinander. Einige stießen zusammen und stürzten ab. Ich gab meinem Vogel die Zügel frei. Vier Tarns begannen uns zu folgen. Mein Tarn setzte den Aufstieg fort und durchstieß dabei etliche Wolkenformationen. Tief unter uns folgten Tarns und ihre Reiter und erschienen zwischen den weißen Wolken wie Tiere, die aus Schneebänken hervorsprangen.
»Ist die Sonne dein Ziel?« fragte ich lachend.
War es möglich, daß die raffinierten Luftkampftricks dem eifrigen Gehirn meines riesigen Reittiers noch so gewärtig waren wie vor vielen Jahren? Beherrschte er sie noch mit derselben Genauigkeit, mit derselben kampflustigen Stärke wie in den lange zurückliegenden Tagen, da sie ihm hoch über den Grasebenen von Ko-ro-ba beigebracht worden waren?
Ich versuchte zu Atem zu kommen.
Die gewaltigen Lungen des Tarn weiteten sich aus. Ich spürte die Bewegung des Brustkorbs zwischen meinen Knien. Noch immer gewannen wir an Höhe.
Dann endlich machten wir kehrt. Wir hatten die Sonne im Rücken.
Die anderen Tarns, weit auseinandergezogen, sich abmühend, schwerfällig die Flügel bewegend, hingen unter uns. Sie waren erschöpft. Sie vermochten den Steigflug nicht fortzusetzen und begannen umzukehren.
Aus der Sonne schlug der mächtige Tarn zu. Wie ich es gelernt hatte, machte ich einen tiefen Atemzug, ehe der Sturzflug begann.
Unsere Gegner hatten keine Chance, so überraschend, so heftig kam unsere Attacke. Nur der vierte Tarnreiter vermochte zu fliehen, indem er in den Wolken verschwand.
Ich folgte ihm unauffällig durch die Wolken und hoffte, daß sein Bericht bei seinen Kampfgenossen Angst und Entsetzen verbreiten würde.
Als ich wieder Sichtkontakt zu den anderen Tarnreitern hatte, erfreute mich der Anblick allerdings weniger. Unsere mutigen Tarnflieger vom Ratsfelsen waren von Kinyanpi umringt, die mindestens eine zehnfache Übermacht besaßen. Das Ergebnis einer solchen Konfrontation schien unausweichlich zu sein, es sei denn, man konnte ein neues Element einbringen, etwas, das die Balance des Kampfes drastisch stören würde.
Daß unsere Männer so lange durchgehalten hatten, ging auf mehrere Faktoren zurück, auf die ich gehofft hatte. Soweit ich wußte, gab es im Ödland nur wenige Stämme, die den Tarn gezähmt hatte. Die Existenz der Kinyanpi war für die Kaiila beinahe etwas Mythisches gewesen, bis die Fliegenden dann auf dramatische Weise über dem Sommerlager erschienen. Dies schien mir darauf hinzudeuten, daß Gruppen dieser Art selten waren. Meiner Auffassung nach entsprachen die Kinyanpi gewissen irdischen Stämmen, die im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert sich als erste das Pferd dienbar machten. Dabei schienen sie allerdings mangels Konkurrenz auf dem Rücken ihrer Tarns noch nicht jene unbedingte Kampfgeschicklichkeit entwickelt zu haben, die sie zuvor mit ihren Kaiila erreicht haben mußten. Meine frisch auf Tarnrücken gesetzten Kaiilakrieger wußten dagegen noch aus jüngster Vergangenheit, wie sie mit Schild und Bogen hantieren mußten.