Eine meiner Erwartungen hatte sich allerdings nicht erfüllt: Das Erscheinen des großen schwarzen Tarn ließ die Kinyanpi nicht vor Entsetzen erstarren und die Flucht ergreifen. Fünf Tarnreiter, Verfolger nach unserem Überfall auf das Gelbmesserlager, hatten sich von dem schwarzen Tier überraschen und einschüchtern lassen. Die unter uns wirbelnden Reiter zeigten dagegen keine Wirkung – wahrscheinlich wegen ihrer großen Zahl oder wegen ihres Anführers oder ihrer Medizin, in die sie großes Vertrauen setzten.
Der riesige Vogel mochte ihnen Unbehagen oder gar Angst einflößen, aber sie zogen sich nicht zurück. Ich mußte sie in Panik versetzen.
Dazu hatte ich mir einen Plan ausgedacht.
Wir rasten von oben mitten in die Horde der Kinyanpi, die schreiend auseinanderstoben. Wir griffen niemanden an. Ich hatte die Waffen in Ruhestellung gebracht. Der Schild hing an meiner Hüfte.
Mein Tarn verharrte flügelschlagend auf der Stelle, während die Kinyanpi sich neu formierten.
Ich deutete nacheinander auf drei Männer, verschränkte die Arme und gab dem Ubar des Himmels einen gesprochenen Befehl. »Einer-Zügel!« Der Vogel stieg empor.
Daß die Kinyanpi überrascht waren, als ich die Zügel losließ, entging mir nicht. Sie hatten hoffentlich begriffen, daß der Tarn allein meiner Stimme gehorcht hatte. Ich schaute nicht zurück, um die Wirkung meines Abgangs nicht zu zerstören. Natürlich hoffte ich, daß die drei Männer mir folgen würden.
Kaum war ich in die Wolken eingedrungen, machte ich meinen kleinen Bogen schußfertig, wobei ich zwei weitere Pfeile in der Hand bereithielt. Ich ergriff die Zügel und zog den Tarn herum. Ringsum wallte die graue Nebelmauer. Wie erhofft flogen die Kinyanpi nacheinander in den Dunst. Drei reiterlose Tarns kehrten schließlich zu der Formation zurück.
Ich steckte den Bogen fort. Nach einer angemessenen Zeit lenkte ich meinen Tarn erneut zwischen die Kinyanpi. Interessanterweise schien der allgemeine Kampf inzwischen nicht weitergegangen zu sein.
Dramatisch deutete ich auf einen Mann. Verzweifelt schüttelte er den Kopf und wendete seinen Tarn. Ich deutete auf einen anderen Kinyanpi, der meine Einladung ebenfalls ablehnte. Einer der Kinyanpi schlug sich mit einem Aufschrei vor die bemalte Brust, und ich deutete auf ihn und anschließend auf zwei weitere. Die drei schauten sich unbehaglich an. Hochmütig wandte ich den Kopf ab. »Einer-Zügel«, sagte ich zum Ubar des Himmels.
Wieder stiegen wir zu den Wolken empor.
Ich lauschte intensiv: Nur der Mann, der sich auf die Brust geschlagen hatte, folgte mir voller Eifer. Mir blieb kaum Zeit, in die Wolke einzudringen, als er sich bereits auf mich stürzte. Den Bogen konnte ich nicht mehr ins Spiel bringen. Seine Lanze fuhr auf mich zu, und ich packte sie und hebelte den Angreifer vom Rücken seines Tarn. Schreiend stürzte der Mann in die Tiefe. Vermutlich würde er zwischen seinen Kampfgefährten hindurchstürzen.
Für die anderen Kinyanpi mußte es so aussehen, als wäre der Mann vom Himmel gefallen, auf geheimnisvolle Weise, wie ein Meteor.
Hoch in den Wolken wartete ich eine angemessene Zeit ab, dann lenkte ich den Ubar des Himmels wieder in die Tiefe und zügelte ihn erneut mitten zwischen den entsetzten Kinyanpi.
Hochmütig und herablassend wies ich sodann auf den Häuptling der Kinyanpi, der von einem Federstabträger begleitet war.
Heftig schüttelte er den Kopf. Mit weit ausholender Geste deutete ich nach Osten, in die Richtung, aus der die Kinyanpi gekommen waren. In hektischer Betriebsamkeit wendete er seinen Tarn, stieß einen Schrei aus und floh, gefolgt von seinen Männern.
»Schnell!« brüllte Cuwignaka, Canka, Hci und den anderen zu. »Zurück zum Ratsfelsen!«
Auf der Ostseite des Ratsfelsengipfels, genau gegenüber dem Ende des gewundenen Weges, hatten sich Söldner festgesetzt, die über die Felswand dorthin geklettert waren. Andere Soldaten, die sich mit Seilen gesichert hatten, hingen noch in der Felswand. Die gesamte Ostflanke des Ratsfelsens schien vor Männern und Seilen zu wimmeln.
Im nächsten Augenblick landeten kreischende Tarns zwischen den Söldnern, die dicht am Abgrund einen ersten Brückenkopf gebildet hatten. Scharfe Krallen taten ihr Werk.
Ich schaute an der Bergklippe hinab auf die Seile mit den Männern, die den Gipfel noch nicht erreicht hatten. »Darum sollen sich Tarnreiter kümmern, die im Sommerlager Frauen und Kinder verloren haben«, sagte ich.
Dann eilte ich, gefolgt von meinen Kämpfern, über den Gipfel des Ratsfelsens. Eine medizinsingende Prozession von Gelbmessern, die langsam den steilen Weg heraufkam, wußte noch nicht, was auf der Oberseite des Berges geschehen war.
»Es ist um euch geschehen!« schrie Iwoso. Auch sie hatte die neueste Entwicklung nicht mitbekommen.
Kaum fünfundzwanzig Fuß unter mir erschienen die ersten Gelbmesser auf dem Weg. Umgeben von tanzenden und trommelschlagenden Medizinmännern, bildeten Sardak und Kog und fünf andere Kurii die Spitze. Bei den Gelbmessern sah ich außerdem Alfred mit einigen Söldnern und einen Gelbmesser-Krieger, in dem ich den dritten der Kriegshäuptlinge erkannte, die im Sommerlager der Kaiila gewesen waren. Soweit ich wußte, hatte er an den bisherigen Angriffen nicht teilgenommen. Nun rechnete er bestimmt mit dem Ende der Belagerung, mit einem klaren Sieg seiner Seite.
Bisher war schon beim Auftauchen der Kurii jeder Widerstand zusammengebrochen.
Auch jetzt zeigte sich die Barrikade am Ende des Weges verlassen.
Etwa sechzig Fuß vor dem Hindernis verharrte die Prozession. Die Trommeln hörten auf zu schlagen. Die Medizinmänner beendeten ihre Tänze und zogen sich zurück.
Gefolgt von den anderen, traten Kog und Sardak vor. Es war still auf dem steilen Weg.
Im nächsten Augenblick war die Barrikade nicht mehr leer. Auf den Balken und Pflöcken war ein riesiger Kur erschienen. Der Wind spielte mit seinem langen Fell.
Die Gelbmesser traten erschrocken einen Schritt zurück. Sie blickten auf Kog und Sardak, die aber wie erstarrt auf dem Weg stehengeblieben waren und von ihrer Begleitung nichts mehr wahrnahmen.
Der auf der Barrikade stehende Kur weitete die Nasenflügel und nahm Witterung.
Sardak trat vor. Er richtete sich zu voller Größe auf.
Das Wesen auf der Barrikade legte die Ohren an, von denen eines halb abgerissen war. Sardak ahmte die Geste nach. Beide Ungeheuer hatten ihre langen Krallen ausgefahren.
Die Gegner sprachen nicht miteinander. Worte waren überflüssig.
Mit geschmeidigen Bewegungen stieg der Kur von der Barrikade und ging auf den anderen zu, bis sie noch etwa zehn Fuß voneinander entfernt waren. Auf allen vieren begannen sie sich zu umkreisen. Ab und zu streckte einer eine Pranke aus oder fauchte, um die Reaktion des anderen zu testen.
Meine Nackenhaare begannen sich zu sträuben.
Plötzlich, wie auf ein unhörbares Kommando, stürzten sie sich aufeinander und begannen zu ringen, zu reißen und zu beißen und verwandelten sich in eine einzige tobende Masse aus Fell und Muskeln.
Dann trennten sie sich und begannen erneut die Umkreisung, ehe eine zweite Attacke folgte, schließlich eine dritte.
Die Medizinmänner der Gelbmesser blickten sich erschrocken an. Blut tropfte auf das Gestein. Diese Ungeheuer konnten also wirklich bluten.
Ich legte einen Pfeil auf die Bogensehne.
Zarendargar, Halb-Ohr, mein Freund, schaffte es schließlich, hinter Sardak zu gelangen. Sardak warf den Kopf in den Nacken, um die empfindliche Stelle zwischen Schädel und Rückgrat zu schließen, doch es war zu spät. Mit einem gewaltigen Biß machte Zarendargar seinem Leben ein Ende, stemmte den riesigen Körper seines Gegners empor und schleuderte ihn in die Tiefe.