Kitiara studierte aufmerksam den Wald, trat einen Schritt vor, hielt dann nervös inne. Hinter sich konnte sie ein Rascheln vernehmen: Skies Flügel gaben stummen Rat. Laß uns von diesem Ort des Untergangs fliehen, Herrin! Fliehen, solange wir noch unser Leben haben!
Kitiara schluckte. Ihre Zunge war trocken und angeschwollen. Ihre Magenmuskeln verknoteten sich schmerzhaft. Lebhafte Erinnerungen an ihre erste Schlacht kehrten zurück, das erste Mal, als sie einem Feind gegenüberstand und wußte, daß sie diesen Mann töten mußte – oder sie selbst würde sterben. Dann hatte sie mit einem geschickten Stoß ihrer Schwertklinge gesiegt. Aber dies hier?
»Ich bin schon an vielen dunklen Orten dieser Welt gewesen«, sagte Kitiara mit tiefer, leiser Stimme zu ihrem unsichtbaren Gefährten, »und niemals hatte ich Angst. Aber hier kann ich nicht eintreten.«
»Halt einfach das Juwel hoch in deiner Hand, das er dir gab«, empfahl ihr Gefährte, der sich in der Nacht materialisierte. »Die Wächter des Waldes werden machtlos sein und dir nicht schaden.«
Kitiara sah in den dichten Ring der hohen Bäume. Ihre riesigen, sich ausstreckenden Äste löschten das Licht der Monde und der Sterne in der Nacht und am Tag das Licht der Sonne aus. Keine sanfte Brise berührte ihre uralten Arme, kein Sturmwind regte ihre großen Äste. Es hieß, daß selbst während der schrecklichen Tage vor der Umwälzung, als Stürme über das Land fegten, wie man sie auf Krynn nicht gekannt hatte, sich lediglich die Bäume des Eichenwaldes von Shoikan dem Zorn der Götter nicht gebeugt hätten.
Aber noch greulicher als seine ewige Dunkelheit war das Echo des ewigen Lebens, das aus seinen Tiefen pulsierte. Ewiges Leben, ewiges Elend und ewige Qual...
»Was du sagst, glaubt zwar mein Verstand«, antwortete Kitiara bebend, »aber nicht mein Herz, Fürst Soth.«
»Dann wende dich ab«, sagte der tote Ritter schulterzuckend. »Zeige ihm, daß die mächtigste Drachenfürstin auf der Welt ein Feigling ist.«
Kitiara starrte Soth aus den Augenschlitzen ihres Drachenhelms an. Ihre braunen Augen funkelten, ihre Hand näherte sich krampfhaft dem Knauf ihres Schwertes. Soth erwiderte ihren Blick, die orangefarbenen Flammen, die in seinen Augenhöhlen flackerten, brannten hell in entsetzlichem Spott. Und wenn seine Augen sie auslachten, was würden dann die goldenen Augen des Magiers enthüllen? Kein Gelächter – Triumph!
Kitiara preßte ihre Lippen eng zusammen und griff nach der Kette um ihren Hals, an der der Zauber hing, den Raistlin ihr geschickt hatte. Sie hielt die Kette fest im Griff, zog kurz daran, so daß sie entzweiriß. Dann hielt sie das Juwel in ihrer behandschuhten Hand.
Schwarz wie Drachenblut, fühlte sich das Juwel bei ihrer Berührung kalt an, strahlte seine eisige Kälte sogar durch ihre schweren Lederhandschuhe aus. Es lag schwer in ihrer Hand, glanzlos, unschön.
»Wie können diese Wächter es sehen?« verlangte Kitiara zu wissen, während sie es ins Licht der Monde hielt. »Schau, es glänzt oder funkelt gar nicht. Es sieht aus, als hielte ich nur ein Stück Kohle in meiner Hand.«
»Der Mond, der auf das Nachtjuwel scheint, den aber du und andere nicht sehen könnt, außer jenen, die ihn verehren«, erwiderte Fürst Soth, »und den Toten, die wie ich zum ewigen Leben verdammt sind, wir können ihn sehen. Für uns scheint er deutlicher als jedes andere Licht am Himmel. Halt ihn hoch, Kitiara, halt ihn hoch und geh voran. Die Wächter werden dich nicht aufhalten. Nimm deinen Helm ab, damit sie dein Gesicht und das Licht des Juwels in deinen Augen sehen können.«
Kitiara zögerte einen weiteren Moment. Dann, mit Raistlins spöttischem Gelächter in ihren Ohren, nahm die Drachenfürstin ihren gehörnten Drachenhelm ab. Immer noch stand sie da und sah sich um. Kein Wind fuhr durch ihre dunklen Locken. Sie fühlte kalten Schweiß an ihrer Schläfe herabtröpfeln. Mit einem zornigen Ruck wischte sie ihn mit ihrem Handschuh weg. Hinter ihrem Rücken hörte sie den Drachen winseln – ein seltsamer Laut, den sie bei Skie noch nie zuvor gehört hatte. Ihre Entschlossenheit sank. Die Hand, die das Juwel hielt, zitterte.
»Sie ernähren sich von Angst, Kitiara«, sagte Fürst Soth sanft. »Halt das Juwel hoch, laß sie es in deinen Augen widergespiegelt sehen!«
»Zeig ihm, daß du ein Feigling bist!« Diese Worte hallten in ihren Gedanken nach. Kitiara umklammerte das Nachtjuwel, hob es hoch über ihren Kopf und betrat den Eichenwald von Shoikan.
Die Dunkelheit senkte sich herab, hüllte sie so plötzlich ein, daß Kitiara einen entsetzlichen, lähmenden Augenblick dachte, sie sei erblindet. Nur Fürst Soths flammende Augen, die in seinem blassen Skelettgesicht flackerten, beruhigten sie. Sie zwang sich, ruhig stehen zu bleiben, den schwächenden Augenblick der Angst verblassen zu lassen. Und dann sah sie zum ersten Mal ein Licht von dem Juwel ausgehen. So ein Licht hatte sie noch nie zuvor gesehen. Es erhellte die Dunkelheit gerade so viel, daß Kitiara alles, was hier in der Dunkelheit lebte, unterscheiden konnte.
Mit Hilfe der Macht des Juwels konnte Kitiara die Stämme der lebenden Bäume ausmachen. Und jetzt konnte sie einen Pfad erkennen, der sich vor ihren Füßen bildete. Wie ein nächtlicher Fluß floß er in die Bäume hinein, und sie hatte das unheimliche Gefühl, daß sie mit ihm floß.
Fasziniert beobachtete sie, wie sich ihre Füße bewegten, sie ohne ihren Willen forttrugen. Der Wald hatte versucht, sie fernzuhalten, erkannte sie entsetzt, und jetzt zog er sie in sich hinein!
Verzweifelt versuchte sie, die Kontrolle über ihren Körper wiederzuerlangen. Schließlich hatte sie Erfolg, oder glaubte es wenigstens. Zumindest bewegte sie sich nicht mehr. Aber jetzt konnte sie nichts anderes tun, als in dieser fließenden Dunkelheit zu stehen und zu zittern; ihr Körper krümmte sich in Krämpfen der Angst. Über ihrem Kopf knirschten Zweige, als ob sie über einen Witz kicherten. Blätter strichen über ihr Gesicht. Hektisch versuchte Kitiara, sie wegzuschlagen, aber dann hielt sie inne. Ihre Berührung war zwar eisig, aber nicht unangenehm. Es war fast eine Liebkosung, eine Geste der Achtung.
Man hatte sie anerkannt, sie als eine ihresgleichen erkannt. Unverzüglich hatte sich Kitiara wieder in ihrer Gewalt. Sie hob den Kopf und sah auf den Pfad.
Er bewegte sich nicht. Es war eine Illusion gewesen, entstanden aus ihrem eigenen Entsetzen. Kitiara lächelte grimmig. Die Bäume selbst bewegten sich, traten zur Seite, um sie passieren zu lassen. Kitiaras Vertrauen stieg an. Sie ging mit festen Schritten auf dem Pfad dahin und drehte sich sogar mit triumphierendem Blick zu Fürst Soth um, der einige Schritte hinter ihr ging. Der tote Ritter schien sie jedoch nicht zu bemerken.
»Womöglich unterhält er sich mit seinen Mitgeistern«, sagte sich Kitiara mit einem Lachen, das plötzlich in ein Aufkreischen schieren Entsetzens umschlug.
Etwas hatte ihren Knöchel ergriffen! Eine Eiseskälte, die die Knochen erstarren ließ, kroch langsam durch ihren Körper und verwandelte ihr Blut und ihre Nerven in Eis. Der Schmerz war stark. Sie schrie vor Qual, umklammerte ihr Bein und sah, was sie ergriffen hatte – eine weiße Hand! Ihre knochigen Finger griffen aus dem Boden hervor und hatten sich fest um ihren Knöchel geschlungen. Sie saugt das Leben aus mir heraus, erkannte Kitiara, als sie spürte, wie die Wärme sie verließ. Und dann sah sie entsetzt, wie ihr Fuß in der Erde zu verschwinden begann.
Sie wurde von Panik überschwemmt. Hektisch trat sie gegen die Hand, versuchte sich aus dem einfrierenden Griff zu befreien. Aber sie hielt sie fest, und dann streckte sich noch eine andere Hand aus dem schwarzen Pfad empor und griff nach dem anderen Knöchel. Vor Entsetzen aufschreiend, verlor Kitiara das Gleichgewicht und stürzte zu Boden.
»Laß das Juwel nicht fallen!« ertönte Fürst Soths leblose Stimme. »Sie werden dich nach unten ziehen!«
Kitiara hielt das Juwel fest, umklammerte es, während sie kämpfte und versuchte, dem tödlichen Griff zu entkommen, mit dem sie langsam nach unten gezogen wurde, um das Grab der Hand zu teilen. »Hilf mir«, schrie sie; ihr schreckerfüllter Blick suchte Soth.