»Es hat mir viel Gutes gebracht!« gab Kitiara bitter zurück. »Ich werde von den abscheulichen Rittern von Solamnia, die jetzt über das ganze Land herrschen, in Sanction fast wie eine Gefangene gehalten und Tag und Nacht von goldenen Drachen bewacht; jede meiner Bewegungen wird beobachtet. Meine Soldaten sind zersprengt, streifen durch das Land...«
»Und dennoch bist du hierher gekommen«, stellte Raistlin fest. »Haben die goldenen Drachen dich aufgehalten? Wußten die Ritter von deinem Weggehen? Aber wir werden später über diese Angelegenheiten sprechen, teure Schwester«, sagte er, als sie weitergingen. »Du frierst und bist hungrig. Der Eichenwald von Shoikan erschüttert die Nerven selbst des robustesten Menschen. Nur eine andere Person hat bisher erfolgreich seine Grenzen passiert, mit meiner Hilfe natürlich. Von dir habe ich erwartet, daß es dir gelingen würde, aber ich muß zugeben, ich war ein wenig überrascht über den Mut Crysanias...«
»Crysania?« rief Kitiara verblüfft. »Eine Verehrte Tochter Paladins? Du hast ihr erlaubt... hier?«
»Ich habe es ihr nicht nur erlaubt, ich habe sie eingeladen«, antwortete Raistlin unerschütterlich. »Ohne diese Einladung und einen Schutzzauber hätte sie natürlich nicht passieren können«
»Und sie ist gekommen?«
»O ja, sogar ganz begierig, das kann ich dir versichern.«
Sie standen vor dem Eingang zum Turm der Erzmagier. Kerzenlicht aus den Fenstern schien auf Raistlins Gesicht. Kitiara konnte es deutlich erkennen. Die Lippen waren zu einem Lächeln verzogen, seine goldenen Augen leuchteten kalt und hart wie das Sonnenlicht im Winter. »Ganz begierig«, wiederholte er sanft.
Kitiara fing zu lachen an.
Spät in der Nacht, als die zwei Monde untergingen, in den stillen Stunden vor der Morgendämmerung, saß Kitiara in Raistlins Arbeitszimmer, ein Glas mit dunkelrotem Wein in Händen haltend.
Das Arbeitszimmer war gemütlich, so schien es zumindest. Große Plüschstühle standen auf handgewebten Teppichen, die sich nur die reichsten Bewohner Krynns leisten konnten. Mit gewebten Bildern von Phantasietieren und farbenfrohen Blumen verziert, zogen sie das Auge an, lockten den Betrachter, sich viele Stunden in ihrer Schönheit zu verlieren. Geschnitzte Holztische standen hier und dort, seltene und wunderschöne Gegenstände schmückten das Zimmer.
Aber das Hervorstechendste waren die Bücher. Sie waren in tiefen Holzregalen aufgestellt. Viele glichen sich im Aussehen, alle waren mit einem nachtblauen Einband versehen, mit silbernen Runen verziert. Es war ein behaglicher Raum, aber trotz eines Feuers, das in einem riesigen offenen Kamin an einem Ende des Arbeitszimmers brannte, lag Kälte in der Luft. Kitiara war sich nicht sicher, hatte aber den Eindruck, daß sie von den Büchern kam.
Fürst Soth stand weit vom Feuer entfernt, im Schatten verborgen. Kitiara konnte ihn nicht sehen, aber sie war sich seiner Gegenwart bewußt – wie Raistlin. Der Magier saß seiner Halbschwester auf einem großen Stuhl hinter einem riesigen Schreibtisch aus schwarzem Holz gegenüber; die geschnitzten Kreaturen, die ihn zierten, schienen Kitiara mit ihren hölzernen Augen zu beobachten.
Sich unbehaglich fühlend, trank sie ihren Wein zu schnell. Obwohl sie an starke Getränke gewöhnt war, war ihr bald schwindelig, und diese Empfindung haßte sie. Sie bedeutete, daß sie die Kontrolle über sich verlor. Wütend schob sie das Glas von sich weg, entschlossen, nicht mehr zu trinken. »Dein Plan ist verrückt!« sagte sie gereizt zu Raistlin. Der Blick der goldenen Augen, die auf ihr ruhten, gefiel ihr nicht. Sie erhob sich und begann im Zimmer auf und ab zu schreiten. »Er ist sinnlos, Zeitverschwendung. Mit deiner Hilfe könnten wir über Ansalon herrschen, du und ich. In der Tat«, sie drehte sich plötzlich um, ihr Gesicht strahlte vor Eifer, »mit deiner Macht können wir die ganze Welt beherrschen! Wir brauchen weder Crysania noch unseren ungeschlachten Bruder...«
»›Die Welt beherrschen‹«, wiederholte Raistlin sanft, seine Augen brannten. »Die Welt beherrschen? Du verstehst immer noch nicht, meine teure Schwester. Laß mich das ganz deutlich machen, wie ich es sehe.« Jetzt war es an ihm, sich zu erheben. Er stützte seine mageren Hände auf den Schreibtisch und beugte sich wie eine Schlange zu ihr vor. »Ich schere mich einen Pfifferling um die Welt!« sagte er sanft. »Ich könnte sie morgen beherrschen, wenn ich wollte! Aber ich will nicht.«
»Du willst die Welt nicht.« Kitiara zuckte mit den Schultern, ihre Stimme war bitter vor Sarkasmus. »Dann bleibt nur noch eins übrig...« Sie biß sich fast auf die Zunge. Sie starrte Raistlin erstaunt an.
Im Schatten des Zimmers funkelten Fürst Soths flammende Augen heller als das Feuer.
»Jetzt verstehst du.« Raistlin lächelte zufrieden und nahm wieder Platz. »Jetzt erkennst du die Wichtigkeit dieser Verehrten Tochter Paladins! Das Schicksal führte sie gerade rechtzeitig zu mir, als sich die Zeit für meine Reise näherte.«
Kitiara konnte ihn nur entgeistert anstarren. Schließlich fand sie ihre Stimme wieder. »Woher – woher weißt du, daß sie dir folgen wird? Sicherlich hast du ihr nichts davon gesagt!«
»Nur so viel, um den Samen in ihr Herz zu pflanzen.« Raistlin lächelte und erinnerte sich an das Treffen. Er lehnte sich zurück und legte seine mageren Finger an die Lippen. »Die Vorstellung, die ich ihr gab, war, offen gesagt, eine meiner besten. Ich sprach zögernd, meine Worte wurden durch ihre Güte und Reinheit aus mir herausgezogen. Sie kamen blutbefleckt hervor, und sie war mein... verloren durch ihr eigenes Mitleid.« Mit einem Zusammenzucken gelangte er in die Gegenwart zurück. »Sie wird kommen«, sagte er kalt und setzte sich wieder aufrecht hin. »Sie und dieser Hanswurst von Bruder. Er wird mir natürlich unwissentlich dienen. Nun ja, das macht er ja bei allem so.«
Kitiara legte die Hand an den Kopf, spürte ihr Blut pochen. Es war nicht der Wein, sie war jetzt mehr als nüchtern. Es war Zorn und Enttäuschung. Er könnte mir helfen, dachte sie wütend. Er ist wirklich so mächtig, wie sie gesagt haben. Sogar mächtiger. Aber er ist verrückt. Er hat den Verstand verloren... Dann sprach eine Stimme ungebeten tief aus ihrem Inneren: »Was ist, wenn er nicht verrückt ist? Was ist, wenn er es ernst meint und den Plan ausführen will?«
Kalt zog Kitiara seinen Plan in Erwägung, betrachtete ihn sorgfältig von allen Seiten. Was sie sah, machte ihr Angst. Nein, er konnte nicht gewinnen! Und noch schlimmer, er würde sie womöglich hineinziehen!
Diese Gedanken zogen schnell durch Kitiaras Geist, und keiner zeigte sich in ihrem Gesicht. In der Tat wurde ihr Lächeln nur noch zauberhafter. Es gab viele Männer, die gestorben waren und dieses Lächeln als letzten Anblick erlebt hatten.
Raistlin hatte das wohl in Erwägung gezogen, als er sie aufmerksam musterte. »Zur Abwechslung kannst auch du mal auf der Gewinnerseite stehen, meine Schwester.«
Kitiaras Überzeugung schwankte. Wenn er den Sieg davontrug, war das überwältigend. Krynn würde ihr gehören.
Kitiara sah den Magier an. Vor achtundzwanzig Jahren war er ein gerade geborenes Kind gewesen, krank und schwach, ein zerbrechliches Gegenstück zu seinem starken Zwillingsbruder.
»Laß ihn sterben. Das wird das Beste sein«, hatte die Hebamme gesagt. Kitiara war damals ein Teenager gewesen. Entsetzt hatte sie ihre Mutter weinerlich zustimmen hören.
Aber Kitiara hatte sich dagegen aufgelehnt. Das Kind würde leben! Sie würde es zum Leben bringen, ob es wollte oder nicht. »Mein erster Kampf«, pflegte sie stolz zu sagen, »war mit den Göttern. Und ich habe gewonnen!«
Und jetzt! Kitiara musterte ihn. Sie sah den Mann. Sie sah vor ihrem geistigen Auge das wimmernde, sich übergebende Kind. Sie drehte sich um. »Ich muß zurück«, sagte sie, während sie ihre Handschuhe überzog. »Du wirst dich mit mir nach deiner Rückkehr in Verbindung setzen?«
»Wenn ich erfolgreich bin, besteht keine Notwendigkeit, mich mit dir in Verbindung zu setzen«, sagte Raistlin sanft. »Du wirst es erfahren.«