»Hör auf, Caramon!« sagte Tolpan voller Abscheu.
»Caramon?« Der große Mann riß die Augen auf, dann verengten sie sich listig. »Caramon ist tot. Ich habe ihn getötet. Vor langer Zeit im Turm des Erzzauberers.«
»Beim Barte Reorx’!« keuchte Tolpan.
»Er nicht Raistlin!« schnaubte Bupu verächtlich. Dann hielt sie inne, beäugte ihn zweifelnd. »Er ist?«
»Nein! Natürlich nicht«, schnappte Tolpan.
»Kein lustiges Spiel!« entschied Bupu entschlossen. »Ich nicht mögen! Er kein hübscher Mann für mich. Er fetter Trunkenbold. Ich gehen nach Hause.« Sie sah sich um. »Welcher Weg Hause?«
»Nicht jetzt, Bupu!« Was war hier nur los? fragte sich Tolpan düster. Er griff nach seinem Haarzopf und zog kräftig daran. Seine Augen waren vor Schmerz feucht, aber der Kender seufzte erleichtert auf. Einen Augenblick dachte er, er sei eingeschlafen, ohne es zu wissen, und laufe in einem merkwürdigen Traum herum.
»Paßt auf«, sagte Caramon feierlich, während er sich im Zickzack bewegte. »Ich spreche einen Zauberspruch.« Er hob die Hände und stieß eine Reihe unsinniger Worte aus. Dann zeigte er auf einen Baum. »Puh«, flüsterte er und taumelte zurück. »Geh in Flammen auf! Auf! Auf! Brenn, brenn, brenn... wie der arme Caramon.« Er taumelte vorwärts, schwankte den Pfad hinab. »Alle Kellnerinnen lieben dich«, sang er. »Jeder Hund ist dein Freund. Was du auch sagst, es ist dein Ernst...«
Tolpan eilte ihm händeringend nach.
Bupu trottete hinterher. »Baum brennt nicht«, sagte sie.
»Ich weiß!« stöhnte Tolpan. »Es ist nur... er denkt...«
»Er schlechter Magier. Ich dran.« Bupu wühlte in ihrem riesigen Beutel, stieß einen triumphierenden Schrei aus und zog eine tote Ratte hervor.
»Nicht jetzt, Bupu...«, begann Tolpan, der das Gefühl hatte, das bißchen geistige Gesundheit, das noch übriggeblieben war, werde ihm entgleiten.
Caramon, der vor ihnen war, hatte mit dem Singen aufgehört und schrie, daß er den Wald mit Spinnweben bedecken wolle.
»Ich werden geheimes Zauberwort sagen«, erklärte Bupu. »Du nicht zuhören. Verdirbst Geheimnis.«
»Ich höre nicht zu«, sagte Tolpan ungeduldig und versuchte Caramon einzuholen, der sich trotz seines schwankenden Ganges schnell vorwärts bewegte.
»Du zuhören?« fragte Bupu, die hinter ihm keuchte.
»Nein«, sagt Tolpan seufzend.
»Warum nicht?«
»Du hast es mir nicht erlaubt!« schrie Tolpan aufgebracht.
»Aber woher du wissen, wenn nicht zuhören?« verlangte Bupu wütend zu wissen. »Du versuchen stehlen geheimes Zauberwort! Ich gehen nach Hause.« Sie blieb unvermittelt stehen, drehte sich um und trottete den Weg zurück.
Tolpan bremste sofort ab. Er konnte jetzt Caramon sehen, der sich an einem Baum festhielt und offensichtlich eine Drachenschar heraufbeschwor. Es hatte den Anschein, als ob der große Mann zumindest eine Weile dort stehen bliebe.
Leise fluchend drehte sich der Kender um und lief hinter der Gossenzwergin her. »Halt, Bupu!« schrie er und ergriff eine Handvoll schmutziger Fetzen, die er für ihre Schulter hielt. »Ich schwöre, ich habe niemals dein geheimes Zauberwort gestohlen!«
»Du es gestohlen!« kreischte sie und fuchtelte mit der toten Ratte herum. »Du es sagen!«
»Was gesagt?« fragte Tolpan völlig verblüfft.
»Geheimes Zauberwort! Du sagen!« schrie Bupu zornig auf. »Hier! Guck!« Sie zeigte auf den vor ihnen liegenden Pfad und kreischte: »Ich sagen geheimes Zauberwort. Dort. Jetzt wir sehen heißen Zauber.«
Tolpan legte die Hand auf sein Gesicht. Ihm war schwindelig.
»Guck! Guck!« schrie Bupu triumphierend, während sie mit einem schmuddeligen Finger zeigte. »Siehst du? Ich fangen Feuer an. Geheimes Zauberwort versagt nie. Pah. Ein schlechter Zauberkundiger – er.«
Als Tolpan den Pfad hinuntersah, blinzelte er. Vor ihnen auf dem Weg waren Flammen sichtbar.
Ich gehe endgültig zurück nach Kenderheim, sinnierte Tolpan insgeheim. Ich kaufe mir ein kleines Haus... oder vielleicht ziehe ich ein paar Monate zu meinen Leuten, bis ich mich besser fühle.
»Wer ist dort?« rief eine helle, kristallklare Stimme.
Tolpan wurde von Erleichterung überflutet. »Es ist ein Lagerfeuer!« rief er vor Freude fast hysterisch. Und die Stimme! Er lief durch die Dunkelheit auf das Licht zu. »Ich bin es – Tolpan Barfuß. Ich habe – huch!«
Caramon riß den Kender vom Boden und hob ihn in seinen starken Armen in die Höhe.
»Pst«, flüsterte Caramon dicht an Tolpans Ohr. Der mit Schnaps vermischte Atem ließ den Kopf des Kenders schwimmen. »Da ist jemand!«
Tolpan zappelte hektisch, versuchte sich aus Caramons Griff zu lösen. Eine von dessen Händen legte sich ihm auf den Mund.
Tolpan begann blaue Sterne zu sehen. Er kämpfte verzweifelt, riß mit seiner ganzen Kraft an Caramons Hand, aber es wäre um das kurze Leben des Kenders geschehen gewesen, wenn nicht plötzlich Bupu vor Caramons Füßen aufgetaucht wäre.
»Geheimes Zauberwort«, kreischte sie und schleuderte die tote Ratte in Caramons Gesicht. Der entfernte Schein des Feuers spiegelte sich in den schwarzen Augen des Kadavers wider.
»Iiih!« kreischte Caramon und ließ den Kender fallen.
Tolpan fiel schwer auf den Boden und japste nach Luft.
»Was ist da los?« fragte eine kalte Stimme.
»Wir sind gekommen... um dich zu retten...«, erklärte Tolpan und erhob sich benommen.
Eine weißgekleidete, in Felle gehüllte Gestalt erschien vor ihnen auf dem Weg. Bupu sah in tiefem Argwohn zu ihr auf.
»Geheimes Zauberwort«, sagte die Gossenzwergin und wedelte mit der toten Ratte vor der Verehrten Tochter Paladins.
»Verzeih mir, wenn ich nicht besonders dankbar bin«, sagte Crysania zu Tolpan, als sie später am Abend um das Feuer saßen.
»Ich weiß. Es tut mir leid«, sagte Tolpan, der jämmerlich zusammengekrümmt auf dem Boden saß. »Ich habe ein Durcheinander angerichtet. Das mache ich öfter«, fuhr er kläglich fort. »Da kannst du alle fragen. Man hat mir schon oft gesagt, daß ich die Leute in den Wahnsinn treibe – aber es ist jetzt das erste Mal, daß ich es wirklich getan habe!« Die Nase hochziehend, warf er Caramon einen ängstlichen Blick zu.
Der große Mann saß in seinem Umhang am Feuer zusammengekauert. Immer noch unter dem Einfluß des starken Zwergenspiritus, war er manchmal Caramon und manchmal Raistlin. Als Caramon aß er gierig, stopfte mit Appetit das Essen in seinen Mund. Dann ergötzte er die anderen mit einigen obszönen Balladen – zum Entzücken von Bupu, die die ganze Zeit applaudierte und heftig einfiel. Tolpan war hin- und hergerissen zwischen dem starken Verlangen, wild zu kichern und sich hinter einem Felsen zu verkriechen und vor Scham zu sterben.
Aber der Kender entschied mit einem Schaudern, daß er Caramon über Caramon-Raistlin stellen würde. Die Verwandlung setzte plötzlich ein, mitten in einem Lied. Die Gestalt des großen Mannes brach zusammen, er begann zu husten, dann befahl er sich selbst, den Mund zu halten.
»Das hast du ihm nicht angetan«, sagte Crysania, die Caramon mit kühlem Blick musterte, zu Tolpan. »Es ist der Alkohol. Er ist unanständig, dickköpfig und offensichtlich ohne jegliche Selbstbeherrschung. Er läßt sich von seinen Gelüsten beherrsehen. Merkwürdig, nicht wahr, daß er und Raistlin Zwillinge sind. Sein Bruder ist so beherrscht, intelligent und kultiviert.« Sie zuckte die Schultern. »Oh, es besteht kein Zweifel, daß dieser arme Mann großes Mitleid verdient.« Sie erhob sich, ging hinüber, wo ihr Pferd angebunden stand, und schnallte ihre Bettrolle hinter dem Sattel los. »Ich werde ihn in meine Gebete zu Paladin einschließen.«
»Sicherlich schaden Gebete nicht«, sagte Tolpan zweifelnd, »aber ich denke, ein starker tarbäischer Tee würde gerade jetzt gut tun.«
Crysania drehte sich um und musterte den Kender mißbilligend. »Ich bin sicher, du wolltest keine Gotteslästerung begehen. Darum will ich deine Aussage so nehmen, wie sie geäußert wurde. Jedoch solltest du danach streben, die Dinge mit einer ernsthafteren Einstellung zu betrachten.«