»Caramon!« Tolpan sprang vor Aufregung auf und ab. »Caramon, das ist ja wunderbar! Hörst du die Vögel? Laß uns gehen! Schnell.«
»Crysania...«, sagte Caramon und drehte sich um. »Wir müssen eine Trage bauen. Du mußt helfen...« Bevor er den Satz beenden konnte, verstummte er, starrte erstaunt auf zwei weißgekleidete Gestalten, die aus den goldenen Bäumen glitten. Ihre weißen Kapuzen waren tief über ihre Köpfe gezogen, so daß er ihre Gesichter nicht sehen konnte. Beide verneigten sich feierlich vor ihm, dann gingen sie zur Lichtung, wo Crysania in ihrem todesgleichen Schlaf lag. Mühelos hoben sie ihren reglosen Körper auf and trugen ihn sanft dorthin, wo Caramon stand. Als sie zum Rand des Waldes gelangten, blieben sie stehen, wandten ihre verhüllten Köpfe zu ihm und sahen ihn erwartungsvoll an.
»Ich glaube, sie warten darauf, daß du als erster gehst, Caramon«, sagte Tolpan fröhlich. »Du gehst voran, ich hole Bupu.«
Die Gossenzwergin blieb mitten in der Lichtung stehen und musterte den Wald mit tiefem Argwohn, den Caramon, der die weißgekleideten Gestalten beobachtete, plötzlich teilte. »Wer seid ihr?« fragte er.
Sie gaben keine Antwort. Sie standen einfach da und warteten.
»Wen kümmert es, wer sie sind!« sagte Tolpan, griff ungeduldig nach Bupu und zog sie mit sich; ihr Sack schlug gegen ihre Fersen.
Caramon knurrte. »Ihr geht zuerst.« Er zeigte auf die weißgekleideten Gestalten.
Sie sagten nichts, bewegten sich aber auch nicht.
»Warum wartet ihr darauf, daß ich den Wald betrete?« Caramon trat einen Schritt zurück. »Geht voraus, bringt sie zum Turm. Ihr könnt ihr helfen. Ihr braucht mich nicht...«
Die Gestalten sagten nichts, aber eine hob die Hand.
»Caramon«, drängte Tolpan, »es sieht aus, als ob sie uns einlädt!«
Sie werden uns nichts antun, Bruder... Wir sind eingeladen! Raistlins Worte, die er sieben Jahre zuvor gesprochen hatte.
»Magier haben uns eingeladen. Ich traue ihnen nicht.« Caramon wiederholte leise die Antwort, die er damals auch gegeben hatte.
Plötzlich war die Luft von Gelächter erfüllt, einem seltsamen, schaurigen Gelächter. Bupu warf die Arme um Caramon, klammerte sich entsetzt an ihn. Selbst Tolpan schien ein wenig aus der Fassung gebracht zu sein. Und dann kam die Stimme, so wie Caramon sie sieben Jahre zuvor gehört hatte: »Meinst du mich auch damit, teurer Bruder?«
11
Die entsetzliche Erscheinung kam immer näher. Crysania war von einer Angst überwältigt, die sie niemals gekannt hatte, einer Angst, von der sie niemals dachte, daß es sie überhaupt geben könne. Als sie vor ihr zurückschrak, dachte Crysania zum ersten Mal in ihrem Leben über den Tod nach, ihren eigenen Tod. Es war nicht der friedliche Übergang zu einem gesegneten Reich, von dem sie immer geglaubt hatte, es existiere. Es war ein grausamer Schmerz und heulende Finsternis, ewiger Tag und ewiger Nacht, in der man die Lebenden beneidete.
Sie versuchte um Hilfe zu schreien, aber ihre Stimme ließ sie im Stich. Es gab sowieso keine Hilfe. Der betrunkene Krieger lag in der Pfütze seines eigenen Blutes. Ihre Heilkünste hatten ihn gerettet, aber er würde viele Stunden schlafen. Der Kender konnte ihr nicht helfen. Nichts konnte ihr helfen gegen diesen...
Die dunkle Gestalt kam immer mehr auf sie zu. Lauf! schrie ihr Geist. Ihre Glieder gehorchten nicht. Sie konnte nicht einmal ihren Blick von der Gestalt abwenden. Die orangefarbenen, flackernden Lichter, die ihre Augen darstellten, hielten sie fest.
Die Gestalt hob eine Hand, eine Geisterhand. Crysania konnte durch die Gestalt hindurchsehen zu den im Nachtschatten liegenden Bäumen. Der silberne Mond stand am Himmel, aber es war nicht sein helles Licht, das von der uralten Rüstung eines seit langer Zeit toten solamnischen Ritters abstrahlte. Die Kreatur leuchtete in einem eigenen verderbten Licht, glühte mit der Energie ihres widerlichen Verfalls. Ihre Hand hob sich höher und höher, und Crysania wußte, wenn die Hand auf gleicher Höhe mit ihrem Herzen war, dann würde sie sterben.
Durch Lippen, die vor Angst starr waren, rief Crysania einen Namen. »Paladin!« betete sie. Die Angst wich nicht von ihr, sie konnte immer noch nicht ihre Seele von dem entsetzlichen Blick dieser feurigen Augen lösen. Aber ihre Hand fuhr zu ihrem Hals. Sie ergriff das Medaillon und riß es weg. Sie spürte, wie ihre Stärke sich aufzehrte, wie ihr Bewußtsein wich, und sie erhob die Hand. Das Platinmedaillon wurde von Solinaris Licht erfaßt und loderte blauweiß auf. Die entsetzliche Erscheinung sagte: »Stirb!«
Crysania spürte, wie sie stürzte. Ihr Körper schlug auf dem Boden auf, aber der Boden schien sie nicht aufzufangen. Sie fiel durch ihn oder von ihm weg. Fallen... fallen... die Augen schließen... schlafen... träumen...
Sie war in einem Eichenwald. Weiße Hände umklammerten ihre Füße, aufklaffende Münder versuchten, ihr Blut zu trinken. Die Dunkelheit war endlos, die Bäume verhöhnten sie, ihre Zweige lachten entsetzlich.
»Crysania!« rief eine sanfte, flüsternde Stimme.
Wer war das, der ihren Namen aus den Schatten der Eichen rief? Sie konnte ihn sehen, in einer Lichtung stehend, schwarz gekleidet.
»Crysania«, wiederholte die Stimme.
»Raistlin!« Sie schluchzte vor Dankbarkeit auf. Sie taumelte aus diesem beängstigenden Eichenwald heraus und entfloh den knochenweißen Händen, die versuchten, sie herunterzuziehen, um sie an ihrer ewigen Pein teilhaben zu lassen. Crysania spürte magere Arme, die sie festhielten. Sie spürte die seltsam brennende Berührung schlanker Finger.
»Beruhige dich, Verehrte Tochter«, sagte die Stimme sanft. In seinen Armen zitternd, schloß Crysania die Augen. »Deine Prüfungen sind beendet. Du hast den Wald sicher passiert. Es gab nichts zu befürchten. Du hattest meinen Zauber.«
»Ja«, murmelte Crysania. Ihre Hand berührte ihre Stirn, wo seine Lippen sich an ihre Haut gepreßt hatten. Dann erkannte sie, daß sie durchgekommen war, und sie erkannte auch, daß sie ihm erlaubt hatte, ihre Schwäche zu sehen, und sie schob die Arme des Magiers von sich. Als sie von ihm entfernt stand, musterte sie ihn kalt. »Warum umgibst du dich mit so widerlichen Dingen?« herrschte sie ihn an. »Warum duldest du solche... solche Wächter?« Ihre Stimme zitterte unwillkürlich.
Raistlin sah sie mild an, seine goldenen Augen glänzten im Licht seines Stabes. »Mit welchen Wächtern umgibst du dich, Verehrte Tochter?« fragte er. »Welche Qualen würde ich erleiden, wenn ich meinen Fuß auf den heiligen Boden des Tempels setzen würde?«
Crysania öffnete den Mund, um eine vernichtende Antwort zu geben, aber die Worte erstarben auf ihren Lippen. In der Tat war der Tempel geweihter Boden, dem Gott Paladin geweiht, und jeder, der die Königin der Finsternis verehrte und seinen Bereich betrat, würde seinen Zorn spüren. Crysania sah Raistlin lächeln, seine dünnen Lippen zucken. Sie spürte, wie sie errötete. Wie konnte er sie so behandeln? Niemals hatte ein Mann sie dermaßen gedemütigt, niemals in solche Unruhe versetzt!
Seit dem Abend, als sie Raistlin im Zimmer von Astinus kennengelernt hatte, hatte Crysania es nicht fertiggebracht, ihn aus ihren Gedanken zu verbannen. Sie hatte sich auf den Besuch im Turm gefreut und sich gleichzeitig gefürchtet. Sie hatte Elistan alles über ihr Gespräch mit Raistlin erzählt, alles – das heißt, seinen »Zauber« hatte sie nicht erwähnt. Irgendwie konnte sie es nicht über sich bringen, Elistan zu erzählen, daß Raistlin sie berührt hatte, sie...
Elistan hatte sich sowieso genügend aufgeregt. Er kannte Raistlin – der Magier war einer der Gefährten gewesen, die den Kleriker aus dem Gefängnis Verminaards in Pax Tharkas befreit hatten. Elistan hatte Raistlin niemals gemocht oder ihm vertraut, aber das hatte niemand, jedenfalls nicht wirklich. Der Kleriker war nicht überrascht gewesen zu erfahren, daß sich der junge Magier für die Schwarzen Roben entschieden hatte. Er war nicht überrascht gewesen, von Paladins Warnung an Crysania zu erfahren. Er war jedoch über Crysanias Reaktion auf das Treffen mit Raistlin überrascht gewesen. Er war überrascht und beunruhigt zu erfahren, daß Crysania eingeladen worden war, Raistlin im Turm zu besuchen, einem Ort, an dem nun das Herz des Bösen auf Krynn schlug. Elistan hätte Crysania es am liebsten verboten, aber der freie Wille war eine Lehre der Götter.