»Kann ich etwas für dich tun? Ist alles zu deiner Zufriedenheit?« fragte er höflich.
»Ja«, sagte Crysania und setzte ihr Weinglas ab, damit er ihre zitternde Hand nicht sehen konnte. »Alles ist bestens. Sogar noch besser. Dein Lehrling ist bezaubernd.«
»Nicht wahr?« sagte Raistlin gleichgültig. Er legte die Fingerspitzen zusammen und ließ die Hände auf dem Tisch ruhen.
»Was für wunderbare Hände du hast«, sagte Crysania. »Wie schlank und elastisch die Finger sind, und so zierlich.« Plötzlich wurde ihr klar, was sie da sagte, und sie errötete. »Aber ich vermute, das ist notwendig für deine Kunst...«
»Ja«, bestätigte Raistlin lächelnd, und dieses Mal hatte Crysania das Gefühl, in seinem Lächeln wirkliche Freude zu sehen. Er hielt seine Hände dem Licht entgegen, das von den Flammen geworfen wurde. »Als ich noch klein war, konnte ich meinen Bruder mit den Kunststücken, die diese Hände damals schon ausführten, erstaunen und entzücken.« Er nahm eine Goldmünze aus einer der geheimen Taschen seiner Roben und legte sie auf die Knöchel seiner Hand. Mühelos ließ er sie über seine Hand tanzen. Sie flog in die Luft und verschwand, nur um in seiner anderen Hand wieder aufzutauchen. Crysania war entzückt. Raistlin sah zu ihr auf, und sie sah, wie sich sein Lächeln in bitterem Schmerz verzerrte.
»Ja«, sagte er, »das war meine Begabung. Damit amüsierte ich die anderen Kinder. Manchmal konnte ich mich mit ihr davor schützen, daß sie mich verletzten.«
»Dich verletzten?« fragte Crysania zögernd; der Schmerz in seiner Stimme tat ihr weh.
Er antwortete nicht sofort, seine Augen waren auf die Goldmünze gerichtet, die er immer noch in der Hand hielt. Dann holte er tief Atem. »Ich kann mir deine Kindheit vorstellen«, murmelte er. »Du kommst aus einer wohlhabenden Familie, so wurde mir berichtet. Du mußt geliebt, behütet, beschützt worden sein, alles, was du brauchtest, wurde dir gegeben. Du wurdest bewundert, begehrt, gemocht.«
Crysania konnte nicht antworten. Sie wurde plötzlich von Schuldgefühlen überwältigt.
»Wie anders verlief dagegen meine Kindheit.« Wieder dieser bittere Schmerz. »Mein Spitzname war ›der Schlaue‹. Ich war kränklich und schwach. Und zu klug. Sie waren solche Dummköpfe! Sie kannten keinen Ehrgeiz – wie mein Bruder, der niemals weiter dachte als an seinen Teller mit Essen! Oder meine Schwester, die glaubte, ihre Ziele nur mit ihrem Schwert erreichen zu können. Ja, ich war schwach. Ja, sie beschützten mich. Aber eines Tages, das schwor ich, würde ich ihren Schutz nicht mehr brauchen! Ich würde mich zu meiner eigenen Größe erheben, indem ich meine Begabung anwendete – meine Magie!«
Seine Hand ballte sich zur Faust, seine goldgetönte Haut wurde blaß. Plötzlich begann er zu husten, den Husten, der seinen zerbrechlichen Körper zerriß. Crysania erhob sich, ihr Herz schmerzte. Aber er winkte ihr, sich zu setzen. Er zog ein Tuch aus einer Tasche und wischte sich das Blut von den Lippen.
»Und das war der Preis, den ich für meine Magie zahlte«, sagte er, als er wieder sprechen konnte. Seine Stimme war nicht mehr als ein Flüstern. »Sie zerstörten meinen Körper und gaben mir diesen verfluchten Blick, denn alles, was ich sehe, stirbt vor meinen Augen. Aber es hat sich gelohnt, wirklich gelohnt! Denn ich habe, wonach ich trachtete – Macht. Ich brauche keinen mehr.«
»Aber diese Macht ist böse!« sagte Crysania, beugte sich vor und musterte Raistlin.
»Ist sie das?« fragte Raistlin plötzlich. Seine Stimme war mild. »Ist Ehrgeiz böse? Ist das Streben nach Macht über andere böse? Wenn das so ist, dann fürchte ich, Crysania, kannst du diese weißen Roben gegen schwarze tauschen.«
»Wie kannst du es wagen?« schrie Crysania schockiert auf. »Ich...«
»Nun, es stimmt«, sagte Raistlin mit einem Schulterzucken. »Du hättest nicht so schwer gearbeitet, um zu der Position aufzusteigen, die du in der Kirche hast, ohne deinen Ehrgeiz, ohne den Wunsch nach Macht.« Jetzt beugte er sich vor. »Hast du dir nicht immer gesagt – da ist etwas Großes, wozu ich bestimmt bin? Mein Leben wird sich von dem der anderen unterscheiden. Ich gebe mich nicht damit zufrieden, da zu sitzen und zu sehen, wie die Welt vorübergeht. Ich will sie formen, beherrschen, gestalten!«
Von Raistlins brennendem Blick festgehalten, konnte Crysania sich nicht bewegen oder ein Wort hervorbringen. Wie konnte er das wissen? fragte sie sich verängstigt. Kann er die Geheimnisse meines Herzens lesen?
»Ist das böse, Crysania?« wiederholte Raistlin.
Langsam schüttelte Crysania den Kopf. Langsam hob sie die Hand zu ihren pochenden Schläfen. Nein, es war nicht böse.
Nicht so, wie er darüber sprach; aber irgend etwas stimmte nicht ganz. Sie konnte nicht denken. Sie war zu verwirrt. Alles, was sich ständig in ihrem Kopf wiederholte, war: Wie ähnlich wir uns doch sind, er und ich!
Er schwieg, wartete darauf, daß sie sprach. Sie mußte etwas sagen. Hastig nahm sie einen Schluck Wein, um Zeit zu gewinnen. »Vielleicht habe ich solche Wünsche«, sagte sie, nach Worten ringend, »aber wenn, dann ist mein Ehrgeiz nicht eigennützig. Ich verwende meine Fähigkeiten und Begabungen für andere, um anderen zu helfen. Ich verwende sie für die Kirche...«
»Die Kirche!« wiederholte Raistlin höhnisch.
Crysanias Verwirrung schwand, an ihre Stelle trat kalte Wut. »Ja«, erwiderte Crysania und fühlte sich wieder auf sicherem Boden, umgeben von dem Bollwerk ihres Glaubens. »Es war die Macht des Guten, die Macht Paladins, die das Böse aus dieser Welt vertrieb. Es ist diese Macht, die ich suche. Die Macht, die...«
»Das Böse vertrieb?« unterbrach Raistlin.
Crysania blinzelte. Ihre Gedanken hatten sie vorwärts getragen. Sie war sich nicht ganz bewußt gewesen, was sie gesagt hatte. »Nun ja...«
»Aber das Böse und das Leiden sind immer noch auf der Welt«, beharrte Raistlin.
»Wegen Leuten wie du!« schrie Crysania leidenschaftlich.
»O nein, Verehrte Tochter«, sagte Raistlin. »Nicht durch mein Handeln. Sieh...« Er winkte sie mit einer Hand zu sich, während er mit der anderen in eine der geheimen Taschen seiner Roben griff.
Crysania, plötzlich wachsam, bewegte sich nicht, starrte auf den Gegenstand, den er hervorholte. Es war ein kleines, rundes Stück Kristall, das im Inneren farbig leuchtete, einer Murmel sehr ähnlich. Raistlin hob ein silbernes Gestell von einer Ecke seines Schreibtisches und legte die Murmel darauf. Das Ding wirkte lächerlich, viel zu klein für das Gestell. Aber die Murmel wuchs! Oder vielleicht wurde sie, Crysania, kleiner. Sie war sich nicht sicher. Doch die Glaskugel hatte nun die richtige Größe und ruhte behaglich auf dem silbernen Gestell.
»Sieh hinein«, sagte Raistlin sanft.
»Nein!« Crysania wich zurück, starrte ängstlich auf die Kugel. »Was ist das?«
»Eine Kugel der Drachen«, erwiderte Raistlin, und sein Blick hielt sie fest. »Sie ist die einzige auf Krynn. Sie gehorcht meinen Befehlen. Ich werde nicht zulassen, daß dir etwas geschieht. Sieh in die Kugel, Crysania – sofern du die Wahrheit nicht fürchtest.«
»Woher weiß ich, daß sie mir die Wahrheit zeigt?« verlangte Crysania zu wissen. »Woher weiß ich, daß sie mir nicht das zeigen wird, was du ihr befiehlst mir zu zeigen?«
»Wenn du weißt, wie die Kugeln der Drachen vor langer Zeit hergestellt wurden«, erwiderte Raistlin, »weißt du, daß sie von allen drei Roben geschaffen wurden – den Weißen, den Schwarzen und den Roten. Sie sind keine Werkzeuge des Bösen, sie sind keine Werkzeuge des Guten. Sie sind alles und nichts. Du trägst das Medaillon Paladins«, sein Sarkasmus war zurückgekehrt, »und du bist stark in deinem Glauben. Könnte ich dich zwingen, etwas zu sehen, was du nicht sehen willst?«