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»Was werde ich sehen?« flüsterte Crysania. Neugierde und eine seltsame Faszination zogen sie näher zum Schreibtisch.

»Nur was deine Augen zu betrachten sich geweigert haben.« Raistlin legte seine dünnen Finger auf das Glas, sang befehlende Worte.

Zögernd beugte sich Crysania über den Schreibtisch und sah in die Kugel der Drachen. Zuerst sah sie nichts im Inneren der Kugel, außer einer blassen, wirbelnden grünen Farbe. Dann wich sie zurück. In der Kugel waren Hände! Hände, die nach draußen griffen...

»Fürchte dich nicht«, murmelte Raistlin. »Die Hände greifen nach mir.«

Und in der Tat, noch während er sprach, sah Crysania die Hände in der Kugel hinausgreifen und Raistlins Hände berühren. Das Bild verschwand. Wilde, lebhafte Farben wirbelten einen Augenblick so heftig im Inneren der Kugel, daß ihr schwindelig wurde. Dann waren auch sie verschwunden. Sie sah... »Palanthas«, sagte sie verblüfft. Sie sah die gesamte Stadt, im Morgennebel schwebend, wie eine Perle leuchtend. Und dann begann die Stadt sich auf sie zu stürzen, oder vielleicht fiel sie in sie hinein. Jetzt schwebte sie über der Neuen Stadt, nun war sie über der Mauer und dann im Kern der Alten Stadt. Der Tempel Paladins erhob sich vor ihr, der wunderschöne, geweihte Bau lag friedlich im Morgenlicht. Und dann war sie hinter dem Tempel und sah über eine hohe Mauer. Sie hielt den Atem an. »Was ist das?« fragte sie.

»Hast du es niemals gesehen?« entgegnete Raistlin. »Diese Gasse, so nahe dem heiligen Bezirk?«

Crysania schüttelte den Kopf. »Nein«, antwortete sie. »Und doch muß ich sie gesehen haben. Ich habe mein ganzes Leben in Palanthas verbracht. Ich kenne alles...«

»Nein«, sagte Raistlin. Seine Fingerspitzen liebkosten leicht die Oberfläche der Kugel der Drachen. »Nein, du kennst sehr wenig.«

Crysania konnte nicht antworten. Er sagte offenbar die Wahrheit, denn diesen Teil der Stadt kannte sie nicht. Mit Abfall bedeckt, war die Gasse dunkel und trostlos. Das morgendliche Sonnenlicht fand seinen Weg nicht zu diesen Häusern, die sich über die Straße beugten, als hätten sie keine Kraft, aufrecht zu stehen. Crysania erkannte nun die Gebäude wieder. Sie hatte sie von vorne gesehen. Sie wurden zum Lagern von Korn, Wein und Bier verwendet. Aber wie anders sahen sie von hinten aus! Und wer waren diese Menschen, diese erbärmlichen Menschen?

»Sie leben dort«, beantwortete Raistlin ihre unausgesprochene Frage.

»Wo?« fragte Crysania entsetzt. »Dort? Warum?«

»Sie leben dort, wo sie können. Sie wühlen sich ins Herz der Stadt wie Maden, ernähren sich von ihrem Abfall. Und der Grund?« Raistlin zuckte die Schultern. »Sie haben nichts, wo sie hingehen können.«

»Aber das ist ja entsetzlich! Ich werde es Elistan sagen. Wir helfen ihnen, geben ihnen Geld...«

»Elistan weiß es«, sagte Raistlin sanft.

»Nein, das weiß er nicht! Das ist unmöglich!«

»Du wußtest es auch.«

»Ich wußte...«, begann Crysania wütend, dann hielt sie inne. Erinnerungen kamen – ihre Mutter, die ihr Gesicht abwendete, wenn sie in ihrer Kutsche durch gewisse Stadtteile fuhren, ihr Vater, der schnell die Vorhänge zuzog oder sich hinauslehnte, um dem Kutscher zu sagen, sie sollten eine andere Straße nehmen.

Crysania beobachtete mit Höllenqualen, wie der Magier die perlweiße Fassade der Stadt aufriß und ihr die dahinterliegende Schwärze und Korruption zeigte: Kneipen, Bordelle, Spielhöllen... Sie konnte ihr Gesicht nicht abwenden, es gab keine Vorhänge, die man zuziehen konnte.

»Nein«, flehte sie, schüttelte den Kopf und wollte vom Schreibtisch zurückweichen. »Bitte zeig mir nichts mehr.«

Aber Raistlin war erbarmungslos. Wieder wirbelten die Farben, und sie verließen Palanthas. Die Kugel der Drachen trug sie um die Welt, und überall, wohin Crysania blickte, sah sie entsetzliche Dinge: Gossenzwerge, eine Rasse, die von ihren Zwergenverwandten verstoßen worden war und im Schmutz lebte, in dem sonst niemand leben wollte; Menschen, die sich in Ländern durchschlugen, in denen kein Regen fiel; Wildelfen, die von ihrem eigenen Volk versklavt waren; Kleriker, die ihre Macht benutzten, um zu betrügen, und Reichtümer anhäuften auf Kosten jener, die ihnen vertrauten.

Es war zu viel. Mit einem Aufschrei bedeckte Crysania ihr Gesicht mit den Händen. Das Zimmer neigte sich unter ihren Füßen. Fast stürzte sie. Und dann legten sich Raistlins Arme um sie. Sie spürte diese seltsame, brennende Wärme seines Körpers und die sanfte Berührung von schwarzem Samt. Es roch nach Gewürzen, Rosenblättern und anderen, geheimnisvolleren Düften. Sie konnte seinen flachen Atem in seinen Lungen rasseln hören.

Behutsam führte Raistlin Crysania zu ihrem Stuhl zurück. Sie setzte sich. Raistlins Nähe war abstoßend und anziehend zur gleichen Zeit. Sie wünschte verzweifelt, daß Elistan hier wäre. Er mußte eine Erklärung geben! So viel schreckliches Leid, so viel Böses durfte nicht erlaubt werden. Sich leer fühlend, starrte sie ins Feuer.

»Wir sind nicht so verschieden.« Raistlins Stimme schien aus den Flammen zu kommen. »Ich lebe in meinem Turm und widme mich meinen Studien. Du lebst in deinem Turm und widmest dich deinem Glauben. Und die Welt dreht sich.«

»Das ist das wahre Böse«, sagte Crysania zu den Flammen. »Dazusitzen und nichts zu tun.«

»Jetzt verstehst du mich«, sagte Raistlin. »Ich bin es nicht länger zufrieden, dazusitzen und zuzusehen. Ich habe viele Jahre aus einem Grund studiert, mit einem Ziel. Und das ist jetzt in meine Reichweite gerückt. Ich will die Welt verändern. Das ist mein Plan.«

Crysania sah schnell auf. Ihr Glaube war zwar angeschlagen, aber im Kern stark. »Dein Plan! Es ist der Plan, vor dem mich Paladin im Traum warnte. Dieser Plan zur Veränderung der Welt wird zur Zerstörung der Welt führen!« Ihre Hand ballte sich in ihrem Schoß zur Faust. »Du darfst ihn nicht ausführen! Paladin...«

Raistlin machte eine ungeduldige Handbewegung. Seine goldenen Augen blitzten auf, und Crysania erhaschte einen kurzen Blick auf die Feuer, die in dem Mann tobten.

»Paladin wird mich nicht aufhalten«, sagte Raistlin, »denn ich will seinen größten Feind entthronen.«

Crysania starrte den Magier verständnislos an. Welcher Feind konnte das sein? Welchen Feind konnte Paladin in dieser Welt haben? Dann wurde ihr Raistlins Absicht klar. Crysania spürte, wie das Blut aus ihrem Gesicht schwand, und kalte Angst ließ sie schaudern. Unfähig zu sprechen, schüttelte sie den Kopf.

»Hör mir zu«, sagte er sanft. »Ich werde es dir erkären...« Und er teilte ihr seine Pläne mit.

Sie saß Stunden vor dem Feuer, gebannt von dem Blick seiner goldenen Augen, gebannt von dem Klang seiner sanften, flüsternden Stimme, und hörte ihn sprechen von den Wundern seiner Magie und den Wundern, die von Fistandantilus entdeckt worden waren.

Raistlins Stimme verstummte. Crysania saß lange Zeit da, verloren und in Reichen umherwandernd, die weit entfernt von denen waren, die sie je gekannt hatte. Das Feuer brannte niedrig in der grauen Stunde vor der Morgendämmerung. Das Zimmer wurde heller. Crysania erzitterte in der plötzlichen Kühle.

Raistlin hustete, und Crysania sah erschrocken zu ihm auf. Er war vor Erschöpfung blaß, seine Hände bebten.

Crysania erhob sich. »Es tut mir leid«, sagte sie mit leiser Stimme. »Ich habe dich die ganze Nacht wachgehalten, und es geht dir nicht gut. Ich muß aufbrechen.«

Raistlin erhob sich mit ihr. »Mach dir um meine Gesundheit keine Sorgen, Verehrte Tochter«, sagte er mit einem verzerrten Lächeln. »Das Feuer, das in mir brennt, ist Brennstoff genug, diesen zerstörten Körper zu wärmen. Dalamar wird dich durch den Eichenwald von Shoikan zurückbegleiten, wenn es dir recht ist.«

»Ja, ich danke dir«, murmelte Crysania. Sie hatte vergessen, daß sie wieder durch diesen verruchten Wald mußte. Sie holte tief Luft und streckte Raistlin ihre Hand entgegen. »Ich danke dir für dieses Treffen«, begann sie förmlich. »Ich hoffe...«

Raistlin legte seine Hand in die ihre; die Berührung seines glatten Fleisches brannte. Crysania sah in seine Augen. Sie sah sich selbst widergespiegelt, eine Frau in weißen Kleidern, ihr Gesicht von schwarzen Haaren eingerahmt.