Während er unter dem Bücherregal hervorkroch, untersuchte der Kender genau die winzige Welt, in die er hineingeschliddert war. Es war eine Welt aus Krümeln, eine Welt aus Staubbällen und Zwirn, aus Nadeln und Asche, aus getrockneten Rosenblättern und feuchten Teeblättern. Möbel erhoben sich über ihm wie Bäume in einem Wald. Eine Kerzenflamme war die Sonne, Caramon ein monströser Riese.
Tolpan umkreiste vorsichtig die riesigen Füße des Mannes. Aus den Augenwinkeln erhaschte er eine Bewegung, er sah einen Fuß, der unter weißen Roben in einem Pantoffel steckte. Par-Salian. Schnell schoß Tolpan zur gegenüberliegenden Seite des Zimmers. Er hielt an, bevor er in einen Kreis trat, der mit silbernem Puder auf den Steinboden gezeichnet war. In der Mitte des Kreises, der im Kerzenlicht glitzerte, lag Crysania; ihre blicklosen Augen starrten immer noch ins Nichts, ihr Gesicht war weiß wie das Leinentuch, das sie einhüllte.
Hier sollte also der Zauber ausgeführt werden!
Tolpan krabbelte hastig zurück und kauerte sich unter einen umgedrehten Nachttopf. Außerhalb des Kreises stand Par-Salian, seine weißen Roben glänzten in einem schaurigen Licht. In seinen Händen hielt er einen mit Juwelen bedeckten Gegenstand, die funkelten und aufblitzten, wenn er ihn drehte. Der Gegenstand sah wie ein Zepter aus, doch war er bei weitem faszinierender. Einige Teile bewegten sich, während sich andere – und das war noch wunderlicher – bewegten, ohne sich zu bewegen! Par-Salian manipulierte gewandt den Gegenstand, faltete, bog und verdrehte ihn, bis er nicht größer als ein Ei war. Seltsame Worte murmelnd, ließ der Erzmagier ihn in seine Roben gleiten.
Obgleich Tolpan geschworen hätte, daß Par-Salian keinen Schritt gegangen war, stand er plötzlich in dem silbernen Kreis neben Crysania. Er beugte sich über sie, und Tolpan sah, daß er etwas in die Falten ihrer Roben schob. Dann begann Par-Salian einen magischen Singsang, bewegte seine knorrigen Hände in immer größer werdenden Kreisen über ihr. Als Tolpan schnell einen Blick auf Caramon warf, sah er ihn mit einem seltsamen Gesichtsausdruck neben dem Kreis stehen. Es war der Gesichtsausdruck eines, der irgendwo fremd ist, aber sich dennoch heimisch fühlt.
Natürlich, dachte Tolpan sehnsüchtig, er ist mit Magie aufgewachsen. Vielleicht ist das einfach so, als wäre er wieder mit seinem Bruder zusammen.
Par-Salian erhob sich, und der Kender war schockiert über die Veränderung, die über den Mann gekommen war. Sein Gesicht war um Jahre gealtert und grau, und er taumelte, als er stand. Er winkte Caramon, und der Mann trat sorgfältig über den silbernen Puder. Sein Gesicht war in Trance erstarrt, er stand stumm neben der reglosen Crysania.
Par-Salian holte aus seinen Roben ein Gerät hervor und hielt es Caramon entgegen. Der große Mann legte seine Hand darauf, und einen Augenblick hielten es beide gemeinsam. Tolpan sah, wie sich Caramons Lippen bewegten, obgleich er nichts hörte. Es war, als ob der Krieger sich etwas vorlese, einige magische Informationen auswendig lernte. Dann hörte Caramon zu sprechen auf. Par-Salian erhob seine Hände, und über dem Boden schwebte er aus dem Kreis in die Dunkelheit des Laboratoriums zurück.
Tolpan konnte ihn zwar nicht mehr sehen, aber seine Stimme hören. Der Singsang wurde lauter und lauter, und plötzlich richtete sich aus dem Kreis auf dem Boden eine Mauer aus silbernem Licht auf. Es war so hell, daß Tolpans rote Augen brannten; aber er konnte nicht wegsehen. Par-Salian schrie nun mit so lauter Stimme, daß selbst die Steine des Raumes auf einen Chor von Stimmen zu antworten begannen, der aus dem Boden aufstieg.
Tolpans Blick war auf diesen schimmernden Vorhang der Macht gerichtet. Hinter ihm konnte er Caramon neben Crysania stehen sehen; Caramon hielt immer hoch das Gerät in der Hand. Nun verschwand das Laboratorium, und Wälder, Städte, Seen und Ozeane kamen und gingen. Menschen waren einen Augenblick zu sehen, verschwanden und wurden durch andere ersetzt.
Caramons Körper begann mit der gleichen Regelmäßigkeit zu pulsieren wie die seltsamen Bilder, als er in der Lichtsäule stand. Auch Crysania war da, und dann war sie wieder nicht da.
Tränen streiften Tolpans bebende Nase und glitten an seinem Schnurrbart herab. Caramon zieht in das größte Abenteuer aller Zeiten, dachte der Kender, und er läßt mich zurück!
Par-Salian hörte nicht den schwachen Laut. In sein Zaubern verloren, erhaschte er aus den Augenwinkeln nur eine flüchtige Bewegung. Zu spät sah er den Kender aus seinem Versteck flitzen, auf die silberne Wand aus Licht zu. Entsetzt brach Par-Salian seinen Singsang ab, die Stimmen der Steine klangen hohl und erstarben. In dem Schweigen, das folgte, konnte er die winzige Stimme vernehmen: »Verlaß mich nicht, Caramon! Verlaß mich nicht! Du weißt genau, in welche Schwierigkeiten du gerätst, wenn du ohne mich gehst!«
Der Kender lief durch den silbernen Puder, ließ eine funkelnde Spur zurück und stürmte in den erleuchteten Kreis. Par-Salian hörte ein schwaches Klirren und sah einen Ring, der auf dem Steinboden dahinrollte. Er sah eine dritte Gestalt sich im Kreis materialisieren, und er keuchte vor Entsetzen auf. Dann waren die pulsierenden Gestalten verschwunden. Über das Laboratorium senkte sich Dunkelheit.
Erschöpft brach Par-Salian auf dem Boden zusammen. Sein letzter Gedanke, bevor er das Bewußtsein verlor, war schrecklich.
Er hatte einen Kender zurück in die Zeit geschickt.