Otik hatte in der Tat vor seinem Ausscheiden ernsthaft in Erwägung gezogen, neben der Feuerstelle ein Schild aufzustellen – vielleicht mit der Inschrift: »Hier tranken Tanis, der Halbelf, und seine Gefährten.« Aber Tika hatte sich diesem Plan so heftig widersetzt – der bloße Gedanke an Tanis’ Reaktion, wenn er dieses Schild sehen würde, ließ Tikas Wangen brennen —, daß Otik ihn fallen gelassen hatte. Aber der dickliche Besitzer des Wirtshauses wurde niemals müde, seinen Stammgästen die Geschichte jener Nacht zu erzählen, als die Barbarin ihr seltsames Lied gesungen, Hederick, den Obersten Theokraten, mit ihrem blauen Kristallstab geheilt und damit den ersten Beweis für die Existenz der alten, wahren Götter geliefert hatte.
Tika, die nach Otiks Ausscheiden die Leitung des Wirtshauses übernommen hatte und hoffte, genug Geld zu sparen, um es kaufen zu können, hoffte fieberhaft, daß Otik sich zurückhielt, diese Geschichte heute abend noch einmal zu erzählen.
Es waren viele Elfengruppen da, die den ganzen Weg von Silvanesti zurückgelegt hatten, um der Beerdigung Solostarans, der Stimme der Sonne und des Herrschers des Elfenreiches Qualinesti, beizuwohnen. Sie drängten Otik nicht nur, die Geschichte zu erzählen, sondern erzählten auch eigene, über den Besuch der Helden in ihrem Land und wie sie die Elfen von dem bösen Drachen Cyan Blutgeißel befreit hatten.
Tika bemerkte, wie Otik dabei wehmütig in ihre Richtung blickte – Tika war schließlich ein Mitglied der Gruppe in Silvanesti gewesen. Aber sie brachte ihn mit einem zornigen Schütteln ihrer roten Locken zum Schweigen. Das war ein Teil ihrer Reise gewesen, den sie sich zu erzählen oder gar zu diskutieren weigerte. In der Tat betete sie jede Nacht, die entsetzlichen Alpträume von dem entstellten Land endlich vergessen zu können.
Tika schloß die Augen; sie wünschte, die Elfen würden das Thema fallen lassen. Sie hatte jetzt ihre eigenen Alpträume. Sie brauchte die alten Alpträume nicht, von denen sie heimgesucht wurde. »Laß sie nur kommen und schnell wieder gehen«, sagte sie leise zu sich und zu einem Gott, der vielleicht zuhörte.
Es war gerade nach Sonnenuntergang. Immer mehr Gäste traten ein, verlangten nach Essen und Trinken. Tika hatte sich bei Dezra entschuldigt, die zwei Freundinnen hatten einige Tränen zusammen vergossen, und jetzt waren sie beschäftigt, von der Küche zur Theke und zu den Tischen zu laufen. Tika zuckte jedes Mal zusammen, wenn sich die Tür öffnete, und sie blickte finster und gereizt, wenn sie Otiks Stimme sich über den Lärm der Krüge und Stimmen erheben hörte.
»... wunderschöner Herbstabend, wenn ich mich recht erinnere; ich war natürlich mehr beschäftigt als ein drakonischer Ausbildungsunteroffizier.« Das erste Lachen hob an. Tika biß die Zähne zusammen. Otik hatte eine dankbare Zuhörerschaft und war in vollem Schwung. Jetzt konnte ihn nichts mehr aufhalten. »Das Wirtshaus lag damals in den Vallenholzbäumen, wie alle Gebäude in unserer lieblichen Stadt, bevor sie von den Drachen zerstört wurde. Ah, wie wunderschön war es in den guten alten Tagen.« Er seufzte – an dieser Stelle seufzte er immer – und wischte sich eine Träne weg. Aus der Menge setzte ein mitfühlendes Gemurmel ein. »Wo war ich stehen geblieben?« Er schneuzte sich, ein weiterer Akt im Schauspiel. »Ach ja. Da stand ich, hinter der Theke, als sich die Tür öffnete...«
Die Tür öffnete sich, wie auf ein Stichwort. Tika strich aus ihrer schwitzenden Stirn eine rote Haarsträhne zurück und sah nervös hinüber. Plötzlich erfüllte Schweigen den Raum. Tika versteifte sich, ihre Nägel gruben sich in ihre Hände.
Ein hochgewachsener Mann, so groß, daß er sich bücken mußte, um einzutreten, stand in der Tür. Sein Haar war dunkel, sein Gesicht grimmig und streng. Obgleich er in Felle gehüllt war, war an seinem Gang und seiner Haltung sein starker und muskulöser Körper zu erkennen. Er warf einen schnellen Blick in das überfüllte Wirtshaus, mit dem er alle Anwesenden und mögliche Gefahren vorsichtig einschätzte.
Aber es war lediglich ein instinktives Handeln, denn als sein durchdringender, finsterer Blick auf Tika fiel, entspannte sich sein strenges Gesicht zu einem Lächeln, und er streckte seine Arme weit aus.
Tika zögerte, aber der Anblick ihres Freundes erfüllte sie plötzlich mit Freude und einer seltsamen Woge des Heimwehs. Sie schob sich durch die Menge und wurde in seiner Umarmung festgehalten. »Flußwind, mein Freund!« murmelte sie gebrochen.
Flußwind, der die junge Frau in seinen Armen hielt, hob sie mühelos hoch, als ob sie ein Kind wäre. Die Gäste begannen zu jubeln, stießen mit ihren Krügen auf die Tische. Hier stand ein Held der Lanze persönlich, als ob er auf den Flügeln von Otiks Geschichte herbeigetragen worden wäre. Und er spielte seine Rolle sogar überzeugend! Sie waren verzaubert.
Dann, als er Tika losgelassen hatte, warf der riesenhafte Mann seinen Fellumhang von seinen Schultern zurück, und jetzt konnten alle den Umhang des Stammeshäuptlings sehen, den der Mann aus den Ebenen trug, mit den V-förmigen, sich abwechselnden Fell- und Lederstücken, von denen jedes einzelne die Stämme der Ebenen darstellte, über die er herrschte. Sein Gesicht, obgleich älter und sorgenvoller als zu der Zeit, in der Tika ihn zum letzten Mal gesehen hatte, war von der Sonne und dem Wetter bronzefarben gebräunt, und in den Augen des Mannes lag eine innere Freude, die zeigte, daß er in seinem Leben endlich den Frieden gefunden hatte, den er zuvor jahrelang gesucht hatte.
Tika spürte ein Würgen in ihrer Kehle und drehte sich schnell um, aber nicht schnell genug.
»Tika«, sagte er, sein Akzent war stärker geworden, seitdem er wieder bei seinen Leuten lebte, »es ist gut, dich wohlauf und immer noch wunderschön vorzufinden. Wo ist Caramon? Ich kann es nicht erwarten, ihn zu sehen... Aber Tika, was ist los?«
»Nichts, nichts«, sagte Tika energisch, schüttelte ihre roten Locken und blinzelte. »Komm, ich habe einen Platz für dich am Feuer freigehalten. Du mußt erschöpft und hungrig sein.«
Sie führte ihn durch die Menge und redete dabei ununterbrochen, so daß ihm keine Gelegenheit blieb, ein Wort zu sagen. Die Gäste halfen ihr unabsichtlich und hielten Flußwind beschäftigt, indem sie näher zu ihm traten, um seinen Fellumhang zu berühren und zu bewundern; sie versuchten, ihm die Hand zu geben, oder drängten ihm Getränke auf.
Flußwind nahm dies alles gleichmütig hin, während er Tika durch die erregte Menge folgte und dabei sein wunderschönes Schwert in Elfenmachart dicht an seiner Seite festhielt. Sein strenges Gesicht wurde noch eine Schattierung strenger, und er sah häufig zu den Fenstern, als ob er bereits Sehnsucht verspürte, dem lauten, warmen Raum zu entfliehen und ins Freie zurückzukehren, das er so liebte. Aber Tika schob die ausgelassenen Stammgäste zur Seite, und kurz darauf hatte sie ihren alten Freund zu einem abgesonderten Tisch am Feuer neben der Küchentür geführt. »Ich bin gleich zurück«, sagte sie, warf ihm ein Lächeln zu und verschwand in der Küche, bevor er den Mund öffnen konnte.
Otiks Stimme hob wieder an, begleitet von einem lauten Klopfen. Seine Geschichte war unterbrochen worden. Otik benutzte seinen Rohrstock – eine der gefürchtetsten Waffen in Solace —, um die Ordnung wiederherzustellen. Der Wirtshausbesitzer war an einem Bein gelähmt, und er genoß es, auch diese Geschichte zu erzählen – wie er während des Falls von Solace verwundet wurde, als er nach seinem eigenen Bericht allein gegen eine eindringende Drakonierarmee kämpfte.
Tika, die mit einer Pfanne Würzkartoffeln zu Flußwind zurückeilte, funkelte Otik wütend an. Sie kannte die wahre Geschichte, wie sein Bein verletzt wurde, als er aus seinem Versteck unter dem Fußboden herausgezogen worden war. Aber sie verriet es niemals! Tief in ihrem Inneren liebte sie den alten Mann wie einen Vater. Er hatte sie aufgenommen und sie großgezogen, als ihr leiblicher Vater verschwunden war, ihr eine anständige Arbeit gegeben, als sie sich beinahe der Dieberei zugewandt hätte. Aber es war sinnvoll, ihn einfach daran zu erinnern, daß sie die Wahrheit kannte, um Otik zu hindern, seine unglaublichen Geschichten zu neuen Höhen auszudehnen.