Prolog
Im Jahre 1250 vor Christus herrschte Pharao Ramses II. über ein blühendes Ägypten und regierte mit unangefochtener Autorität. Die Grenzen im Norden waren ebenso gut bewacht wie die im Süden. Kein fremdes Volk hatte eine Armee, die mächtig genug gewesen wäre, um das Land der ewigen Sonne zu erobern und sich seiner Reichtümer zu bemächtigen.
Im ganzen Land herrschte Ordnung und Sicherheit. In den großen, von zahlreichen blühenden Gärten gezierten Städten wetteiferten elegante Frauen bei Festen und Banketten darum, welche die Schönste sei. Die Straßen waren sicher. Eine Frau konnte sich ganz nach Belieben auf die Straße begeben, ohne einen Überfall fürchten zu müssen. Es gab keine Armen, die um Brot und Wasser hätten betteln müssen. Die Reichen boten ihr Schiff all denen, die keines besaßen, um den Nil zu überqueren und von einem Ufer zum anderen zu gelangen.
In der südlichen Hauptstadt, dem hunderttorigen Theben, entfalteten der Bauleiter des Pharao und die besten Handwerker große Aktivitäten. Der König hatte den Befehl erteilt, Karnak, den Tempel der Tempel, noch prächtiger zu gestalten. Schon jetzt erhob sich der größte Säulensaal des Landes mit steinernen Papyrus Stauden in den Himmel und vereinte ihn mit der Erde.
Dank der machtvollen Gebete der Priester ging täglich die Sonne über dem Gebirge am Horizont auf und verbreitete ihre Wohltaten. Das Glück schien zum Greifen nah.
Und doch drang an jenem Tag heftiges Stimmengewirr aus einem Bauernhaus und störte die ländliche Ruhe eines Dorfes, das etwa zehn Kilometer von Theben entfernt lag.
Der Gott des Schicksals hatte es so gewollt.
1
»Dies ist mein Haus«, erklärte ein etwa vierzigjähriger, breitschultriger Mann mit lauter Stimme. »Auf Befehl des Pharao.« Die beeindruckende Gestalt hieß Setek. An seiner Seite trug er ein Bronzeschwert. Seine Brust war in einen Lederharnisch gehüllt. Er wirkte fast so furchterregend wie ein Nachtdämon.
»Das ist unmöglich«, entgegnete Geru. »Dieses Haus ist unser Haus. Meine Frau Nedjemet kann es bei ihrem Leben schwören.«
Geru, was so viel heißt wie »der Schweigsame«, und Nedjemet, »die Sanfte«, waren seit vielen Jahren verheiratet. Sie hatten einen einzigen Sohn, der jetzt fünfzehn war und sich zur Hoffnung ihres Alters entwickelte. Durch harte Arbeit hatten sie ein Feld, einen Obstgarten sowie mehrere kleine Gärten am Nilufer erworben.
Bis zu diesem Tage hatten sie glücklich gelebt.
»Es geht nicht nur um das Haus«, fuhr der Soldat fort. »Es geht auch um all euren Grund.«
»Unseren Grund… Wir sind es, die ihn fruchtbar gemacht haben. Er gehört uns!«, protestierte Geru.
»Jetzt gehört er mir«, verkündete Setek kalt. »Auf Befehl des Pharao, wie ich euch bereits sagte.«
Der Soldat sah sich um. Das Haus gefiel ihm. Drinnen wie draußen weiße Wände, ein großer, mit Matten und Zedernholzkisten ausgestatteter Raum im Erdgeschoss, eine Treppe, die in den ersten Stock führte, wo sich Schlafzimmer und ein Waschraum befanden, eine mit blühenden Pflanzen und Weinstöcken berankte Terrasse… Man hatte ihn nicht belogen. Dieses Haus war tatsächlich das prächtigste des ganzen Dorfes. Er hätte sich kein besseres Geschick erträumen können.
»Wo ist dieser Befehl?«, fragte Nedjemet zitternd. »Ich will ihn sehen. Dieses Haus ist mein Haus.«
»Geht ins Bürgermeisteramt und erkundigt euch. Es hat alles seine Richtigkeit.«
Die breiten Lippen des Soldaten verzogen sich zu einem grausamen Grinsen.
»Das werden wir tun«, erklärte Geru. »Wir werden Euch beweisen, dass Ihr Euch irrt!«
Setek lachte.
»Setek täuscht sich nie, so wahr Seth, der Gott des Gewitters, mein Beschützer ist! Zum Glück für mich! Ich habe gegen die Hethiter gekämpft und viele von ihnen getötet. Als ich meinem General die abgetrennten Hände dieses Gesindels gebracht habe, wusste er, dass ich ein tapferer Mann bin. Und dafür hat er mich ausgezeichnet. Zwanzig Mal bin ich aufgebrochen und nach Asien in den Krieg gezogen. Ich habe unter Kälte, Hitze, Hunger und Durst gelitten, meine Füße haben geblutet, ich wurde viermal verletzt, ein Pfeil hat meinen Arm durchschossen, hundertmal habe ich geglaubt, sterben zu müssen… Aber ich bin lebend zurückgekommen. Die Hethiter haben in den Friedensvertrag mit Ramses dem Großen einwilligen müssen. Der Krieg ist beendet. Und heute ist es an mir, das Leben zu genießen!«
Geru nahm seine Frau in die Arme.
Sie hatten Angst.
Der Soldat scherzte nicht. Jeder wusste, dass Ramses der Große den tapferen Kriegern, die an seiner Seite gekämpft hatten, einen glücklichen Ruhestand zusicherte. Er schenkte ihnen Gold und Ländereien. Aber noch niemand hatte gehört, dass er rechtschaffenen Bauern den Besitz wegnahm.
»Gebt mir etwas zu essen, bevor ich mein Land in Besitz nehme«, forderte Setek. »Die Sonne steht hoch am Himmel. Ich habe Hunger.«
Geru löste sich von seiner Frau und ballte die Fäuste. Sie hielt ihn zurück.
»Wir schulden ihm Gastfreundschaft«, sagte sie. »Das ist eine Pflicht, die uns die Götter auferlegt haben. Danach sehen wir weiter.«
Sie ließ die beiden Männer zurück, die sich schweigend anstarrten, und eilte in die ans Haus angebaute Küche, um dort Gerstenpfannkuchen zuzubereiten und ein Bohnenpüree mit Knoblauch warm zu machen. Ein Strohdach schützte sie vor der brennenden Sonne. Der Rauch wehte nach draußen und drang nicht ins Haus.
»Wie das duftet!«, rief Setek. »Mir knurrt schon der Magen. Im Krieg muss man sich mit wenig zufrieden geben… Altbackenes Brot, brackiges Wasser. Ihr Bauern beklagt euch ständig, dabei versteht ihr es zu leben! Bestimmt hast du auch kühles Bier…«
Geru hielt seine Wut zurück. Niemand sollte ihn je beschuldigen können, einen Gast schlecht empfangen zu haben. Die Nahrung gehörte nicht den Menschen, sondern den Göttern. Jedem, den man in sein Haus aufnahm, musste man mit Respekt begegnen und für sein Wohlergehen sorgen. Natürlich war Setek mit Gewalt in sein Haus eingedrungen, aber Geru würde Gewalt nicht mit Gewalt beantworten. Er würde diesen Schurken unter Respektierung des Gesetzes zwingen, sich wieder davonzumachen.
Geru ging in den Keller hinunter, wo sich dank der Kühle, die aus der Erde aufstieg, Bier und Wein frisch hielten. Er verstand sich darauf, ein wohlschmeckendes und bekömmliches süßes Bier zu brauen. Die aufeinander gestapelten großen Tonkrüge versprachen angenehme Zeiten unter der Laube, wenn die Hitze jegliche Tätigkeit unmöglich machen würde. Geru nahm einen der Krüge und goss eine bernsteinfarbene Flüssigkeit in eine irdene Schale.
Als er aus dem Keller zurückkam, um dem Gast das Getränk anzubieten, sah er, wie ihm seine Frau gerade einen mit Bohnenpüree gefüllten heißen Pfannkuchen reichte.
Der Soldat schlang ihn gierig herunter. Er riss Geru die Schale aus den Händen und leerte sie in einem Zug.
»Ich bin noch nicht satt und habe noch Durst! Noch einen Pfannkuchen und noch eine Schale! Beeilt euch… Es gibt nichts Schrecklicheres, als warten zu müssen.«
Geru stellte sich vor seine Frau.
»Wir haben unsere Pflicht getan. Die Götter mögen es bezeugen. Geht jetzt!«
Der Soldat begann erneut zu lachen.
Mit katzenartiger Geschwindigkeit stürzte er sich auf Geru, stieß ihn um und packte Nedjemet an den Handgelenken.
»Frau, du wirst jetzt gehorchen, und zwar schnell!«
Plötzlich bekam er jedoch keine Luft mehr. Zwei kräftige Hände packten ihn am Hals und schnürten ihm die Luft ab. Er musste Nedjemet loslassen. In seiner Brust brannte es wie Feuer. Vergeblich versuchte er, sich zu wehren.
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