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Das Viertel der Ministerien wurde Tag und Nacht von der Polizei bewacht, aber sie war nachsichtig. Seit Jahrzehnten war es in Ägypten und seiner Hauptstadt sehr ruhig. Unter der Herrschaft von Ramses dem Großen erlebte die Bevölkerung glückliche Tage.

Die Aufseher, die mit der Bewachung des Schatzamtes betraut waren, schenkten der flüchtigen Silhouette, die zunächst durch eine am Ministerium vorbeiführende Gasse gehuscht war und dann von Terrasse zu Terrasse sprang, nicht die geringste Aufmerksamkeit.

Zwei Tage hatte Kamose damit verbracht, die genauen Informationen zu bekommen, die er brauchte. Er hatte die Einladung des jungen literaturbegeisterten Adligen angenommen und das Gespräch immer wieder mit Fragen nach der Außenstelle des Katasteramts unterbrochen.

Der junge Mann wusste, dass er Unrecht tat. Er hätte in den Tempel zurückkehren und dem Alten von seinem Unterricht berichten sollen. Aber die Gelegenheit war zu günstig. Mit ein klein wenig Glück würde er die Archive finden, die für sein Dorf zuständig waren, und den Fehler, der zum Unglück seiner Familie geführt hatte, belegen können.

Die Angst schnürte Kamose die Kehle zu. Würde sein Plan misslingen, so wären Stockschläge, Gefängnis und unehrenhafte Entlassung die Folge. Seine Eltern würden vor Kummer sterben.

Das Klettern schreckte den jungen Mann nicht. Er hatte vor, auf die Dächer zu schleichen und durch ein hoch gelegenes Fenster in die Ministerialbüros einzudringen. Er bewahrte ruhig Blut und verfuhr mit größter Langsamkeit, wobei er auf das geringste Geräusch achtete. Die Aufseher überwachten die Hauptzugänge und die von den Ministern und Würdenträgern benutzten Räumlichkeiten. Die Archive wurden weniger aufmerksam bewacht. Zweimal pro Nacht machte ein Aufseher einen Rundgang.

In der Ecke eines Ganges zusammengekauert, wartete Kamose, bis der Aufseher mit seiner Kontrolle fertig war. Barfuß ging er ohne Eile zum ersten Saal. In aufeinander gestapelten Kisten befanden sich dort zahlreiche Papyrusrollen.

Kamose entrollte die erste.

Sie enthielt Skizzen und geometrische Pläne. Auf den ersten Blick konnte er erkennen, dass es sich um den Plan seines Dorfes und die Verteilung von Grund und Boden handelte.

Der junge Mann unterdrückte einen Freudenschrei. Er brauchte nur die Kommentare der Verwaltung zu lesen, um die Namen der rechtmäßigen Besitzer herauszufinden. Doch dann erblasste er. Seine Enttäuschung war so gewaltig wie zuvor seine Hoffnung: Die Texte waren in einer Schrift geschrieben, die er nicht lesen konnte. Die Schrift der Verwaltung, die sein Lehrer ihm hoch nicht beigebracht hatte…

Wäre er vernünftig gewesen, so wäre Kamose sofort in den Tempel zurückgekehrt und hätte den Alten um Verzeihung gebeten. Sicherlich hätte er Stockschläge und eine Rüge erhalten, an die er sich noch lange erinnert hätte.

Aber der junge Mann hörte nicht mehr auf seinen Verstand. Die Enttäuschung war zu groß. Er ertrug es nicht mehr, in Unwissenheit zu leben und seine Eltern in Kummer zu wissen. Handwerker, Schreiber… Alle Wege, die er eingeschlagen hatte, waren Sackgassen. Sie erforderten zu viel Zeit. Kamose hatte beschlossen zu handeln.

Die Braut des Nil hatte ihm die Liebe entdeckt, die Liebe, die sein Schicksal ändern würde.

Der Alte schlief nur noch zwei oder drei Stunden pro Nacht. Obwohl er Hunderte von heiligen Texten entziffert hatte und an der Abfassung weiterer hundert beteiligt gewesen war, hatte er den Eindruck, nur einen Zipfel des Schleiers der Erkenntnis angehoben zu haben. Mit fünfundachtzig Jahren hatte der Alte noch nicht das richtige Alter erreicht, um wie der berühmte Wesir Ptahhotep seine Erinnerungen zu verfassen. Letzterer hatte hundertzehn Jahre gewartet, bevor er seine Ratschläge an die Jugend niedergeschrieben hatte. Noch nie war dem Alten ein so unbeugsamer, so ungestümer Junge begegnet wie Kamose. Doch in Wahrheit hatte er ihn geradezu erwartet. Er hatte keinen rechten Gefallen mehr am Unterricht, da die Söhne der Adligen ihm langweilig und charakterlos erschienen. Kamose hatte sich ein Ziel gesetzt. Er beging alle nur vorstellbaren Unvorsichtigkeiten, um es zu erreichen. Das war seine Prüfung, sein Weg, um vom Kind zum Erwachsenen zu reifen. Erfolg oder Misserfolg lag in den Händen der Götter. Und ein wenig in denen Kamoses.

Ganz wie er seinem Schüler verraten hatte, musste der Alte sein Büro nicht verlassen, um zu erfahren, was sich in der Welt draußen tat. Er war gut genug mit den menschlichen Leidenschaften vertraut, um zu wissen, welche Folgen sie hervorrufen konnten. Alles Weitere las er in den Hieroglyphen, den göttlichen Zeichen. Sie enthielten die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft.

Kamose hatte das Verwaltungsviertel ohne Schwierigkeiten verlassen und in einem Bierhaus in der Vorstadt Thebens Zuflucht gesucht, einer Art Schenke, die die ganze Nacht geöffnet hatte. Leicht betrunken war er eingeschlafen.

Mit schwerem Kopf war er erwacht.

Die Sonne, die er doch so mochte, erschien ihm unerträglich. Kamose lief aufs Geratewohl vor sich hin und hoffte, auf diese Weise die Kopfschmerzen zu vertreiben, die ihm in den Schläfen pochten. Er bereute es, genau in dem Moment schwach gewesen zu sein, in dem er all seine Sinne brauchte, um eine Entscheidung zu treffen, die den Lauf seines Lebens wahrscheinlich ändern würde. Aber in welche Richtung?

In den Straßen von Theben spielten fröhliche Kinder. Adlige Damen wurden in Sänften umhergetragen. Mütter unterhielten sich von einem Haus zum anderen. Kamose mischte sich unter, die Menge, da er fürchtete, von einem Aufseher gesucht zu werden, der sich gut mit dem Gebrauch seines Stocks auskannte.

Aber seine Überlegungen hatten den jungen Mann zu einem Entschluss geführt. Der Grund für die Verarmung seiner Eltern lag in einer ungerechten Gesellschaft, in der allein die Reichen und ihre Kinder über unantastbare Privilegien verfügten. Einer der Reichen, einer der mächtigsten unter ihnen, würde folglich seinen Eltern das Hab und Gut zurückerstatten, um das man sie gebracht hatte.

Kamose lief die Kais auf der Suche nach dem Fischer aus seinem Dorf ab, der regelmäßig in die Hauptstadt kam, um seine Fische zu verkaufen. Er sah, wie ein mit großen Tonkrügen beladenes Schiff entladen wurde, begegnete zahlreichen Hafenarbeitern und entdeckte endlich den Freund seiner Eltern.

»Bist du nicht in der Schreiberschule?«, fragte der Fischer verwundert, der von Kamose regelmäßig über den Verlauf seiner Karriere informiert wurde.

»Heute ist ein freier Tag.«

»Deine Eltern sind stolz auf dich. Sie sind glücklich, dass du das Dorf verlassen hast. Sie bedauern es, dass sie dein Verhalten missbilligt haben.«

»Sag ihnen unbedingt, dass ich sie nicht aufgebe.«

»Du siehst müde aus«, bemerkte der Fischer. »Hast du womöglich Sorgen?«

»Es geht mir gut. Beruhige meine Eltern.«

»Das werde ich tun.«

Der Fischer entfernte sich. Er hatte Kamose nicht gestanden, dass die Kräfte seines Vaters nachließen und die blendende Gesundheit seiner Mutter von Erschöpfung und Sorge angegriffen wurde. Es war besser, den jungen Mann nicht zu ängstigen. Die Studien, die der Bauernsohn betrieb, erforderten ungebremsten Mut.

Zahlreiche Menschen drängten sich an einer der größten Landungsbrücken der Hauptstadt. Ein Provinzfürst näherte sich mit seinem Gefolge Karnak. Er brachte Gold und Gewürze aus dem Süden. Am Ende seiner Handelsreise würde er von Ramses dem Großen empfangen werden.

Kamose entdeckte den jungen Adligen, mit dem er sich über das Katasteramt unterhalten hatte. Der Schreiberlehrling schien sich zu langweilen.

Die beiden entfernten sich etwas von der Menge.

»Mir graut vor dieser Masse«, erklärte der junge Mann. »Ich lese lieber. Diese Pflichtgratulationen sind immer dieselben. Ich bin erstaunt, dass du hier bist, Kamose. Interessierst du dich etwa für gesellschaftliche Ereignisse?«