»Ich bin Kamose«, erklärte der junge Mann. »Ich breche dir alle Knochen, wenn du nicht sofort unser Haus verlässt!«
Wutentbrannt und mit zusammengepressten Lippen erhob sich Setek langsam, bereit, erneut anzugreifen.
Nedjemet stürzte sich auf ihren Sohn und schloss ihn in die Arme.
»Er ist unser Gast, Kamose! Du hast nicht das Recht, ihn zu schlagen.«
»Und er, hat er etwa das Recht dazu? Warum benimmt er sich wie ein Barbar?«
»Ich bin hier zu Hause, junger Widder«, erklärte Setek. »Und du tust gut daran, nicht noch einmal die Hand gegen einen Veteran von Ramses’ Armee zu erheben. Diesmal will ich noch nachsichtig sein… Doch wenn du noch einmal damit anfängst, wirst du in die Oasen verbannt.«
Kamose erblasste. Die Drohungen des Soldaten waren nicht aus der Luft gegriffen. Der Pharao schätzte die Männer, mit deren Hilfe er den Sieg über den hethitischen Feind davongetragen hatte, ein Sieg der Ägypten einen tiefen und dauerhaften Frieden garantierte. Ramses gewährte ihnen zahlreiche materielle Vorteile und duldete es nicht, wenn man ihre Rechte anzweifelte.
Der junge Mann richtete seinen Vater auf, der halb tot am Boden lag. Er blutete aus einer Wunde im Nacken.
»Morgen ziehe ich hier ein«, verkündete Setek. »Macht euch bereit. Ich will keinen Grund zur Klage mehr haben.«
Als der Soldat ihr Haus verließ, begann Nedjemet zu schluchzen.
Nedjemet behandelte ihren Mann mit Salben, die der Arzt zubereitet hatte, der regelmäßig ins Dorf kam, um die Bewohner kostenlos zu behandeln. Die Verletzung schien nicht schlimm zu sein, aber Geru war zutiefst schockiert. Mühsam trank er das frische Wasser, das seine Frau ihm reichte.
»Es ist schrecklich«, sagte sie zu ihrem Sohn, »er ist nicht in der Lage aufzustehen… Und wir haben nur ein paar Stunden, um den Bürgermeister aufzusuchen. Dann vertreibt uns dieses Ungeheuer aus unserem Haus.«
Kamose küsste seine Mutter zärtlich auf die Wange.
»Mach dir keine Sorgen. Ich kümmere mich um alles.«
»Was kannst du denn tun, mein Kind? Dieser Held aus dem Hethiterkrieg darf machen, was er will.«
»Der Bürgermeister wird mich anhören.«
»Ich habe Angst, Kamose. So große Angst…«
»Gebt nicht so einfach auf, Mutter. Ihr habt viele Jahre lang gearbeitet, um euer Land zu erwerben. Der Pharao hat es euch gegeben, er kann es euch nicht einfach so wieder nehmen. Das wäre ungerecht.«
»Der Pharao ist der Sohn des Lichts, Kamose. Er ist Gott auf Erden. Was er beschließt, das ist gerecht.«
»Der Bürgermeister wird uns helfen«, wiederholte der junge Mann. »Er wird unsere Sache vor dem Provinzrichter verteidigen. Wir werden siegen, da bin ich mir sicher. Wir werden in unserem Haus bleiben.«
In den schmalen, aus gestampftem Lehm bestehenden Gassen des Dorfes spielten Kinder, die sich Bälle aus Stofffetzen zuwarfen. Ein paar von ihnen riefen Kamose etwas zu, der aber ganz gegen seine Gewohnheit nicht antwortete.
Eine durchziehende Ziegenherde hielt ihn auf. Schließlich gelangte er zum Haus des Bürgermeisters, einem großen Gebäude, in dem sich eine Großbäckerei, eine Fleischerei und eine Werkstatt befanden. Auf diese Weise kontrollierte der Bürgermeister die wichtigsten Aktivitäten des Dorfes. Er herrschte mit eiserner Hand. Jeder fürchtete ihn, aber niemand hatte ihm etwas vorzuwerfen. Er gewährleistete den Wohlstand der ihm unterstellten Bevölkerung, und nie hatte einer der Dorfbewohner Hunger oder Durst leiden müssen. Der Bürgermeister war vom Provinzfürsten ernannt worden, der wiederum hatte seine Wahl dem Wesir, dem obersten Richter, unterbreitet. Seine Autorität war also von der höchsten Instanz bestätigt worden.
Das Büro seines Verwalters lag an einer Gasse, die durch ein Strohdach vor der Sonne geschützt wurde. Hier wurden Besucher empfangen, hierhin kamen die Dorfbewohner, um ihre Beschwerden zu äußern – meistens öffentlich. Die Familien hatten kaum Geheimnisse voreinander, und die meisten Meinungsverschiedenheiten wurden rasch geklärt.
»Ich will sofort den Bürgermeister sprechen«, forderte Kamose.
»Er ist nicht hier«, antwortete der Verwalter, der über seinen Abrechnungen saß. »Was wünschst du?«
»Ich muss mit ihm reden. Mit niemand anderem!«
»Du weißt doch, dass er sehr beschäftigt ist und mir sein volles Vertrauen schenkt. Worum geht es?«
»Um nichts. Gar nichts.«
Kamose entfernte sich mit großen Schritten. Kopfschüttelnd beugte sich der Verwalter wieder über seine Abrechnungen. Der Junge hatte keinen besonders guten Ruf. Er war stur und leicht aufbrausend und galt als wenig gefügig. Vor kurzem hatte der Bürgermeister dem Verwalter empfohlen, ihm gegenüber misstrauisch zu sein.
Kamose verließ das Dorf auf einem verlassenen Sträßchen, das an einem Dinkelfeld endete. Die Sonne stand noch immer hoch am Himmel. Der junge Mann hob den Blick und betrachtete das makellose Blau, das die Götter jeden Tag aufs Neue schufen und das ihn seit dem Tag erfreute, an dem sich seine Augen dem Licht geöffnet hatten. Wie gern er sich in das noch taufeuchte Gras am Rande der Wüste setzte, um den Sonnenaufgang zu betrachten! Wenn Gott Re, der Sieger über die Dunkelheit, aus dem Feuerozean emporstieg, der den Horizont in rote Glut tauchte, fing Kamoses Herz in seiner Brust zu pochen an. Aber heute hatte er keine Zeit zum Träumen. Er musste so schnell wie möglich den Bürgermeister finden.
Nachdem er das Dinkelfeld durchquert hatte, lief Kamose auf einem Pfad weiter, der an einem Palmenhain entlangführte, und erreichte einen von Mauern umgrenzten Garten. Hier lag der Lieblingsort des Bürgermeisters, streng bewacht von einem nubischen Gärtner. Wenn er die Jungen aus dem Dorf erwischte, die Feigen und Datteln stehlen wollten, kannte er kein Erbarmen. Ohne zu zögern, benutzte er seinen Stock und schnappte sie sich, wenn sie wegrannten. Kamose duckte sich, um von dem Nubier nicht bemerkt zu werden, und kletterte auf der Rückseite des Gartens an der niedrigsten Stelle über die Mauer.
Auf der anderen Seite wartete er einen Augenblick, um sicherzugehen, dass er nicht entdeckt worden war. Aber nur der Gesang der Amseln drang durch die Luft.
Der Bürgermeister lehnte mit dem Rücken an einer Palme, hatte die Hände auf seinem runden Bauch zu Fäusten geballt und schlief. Neben ihm lag ein Lederschlauch mit frischem Wasser. Die großen Palmen spendeten großzügig Schatten, und so wurde der kahle Schädel des Bürgermeisters vor der brennenden Sonne geschützt. Kamose griff eine Hand voll Erde und warf sie dem dicken Mann auf den Bauch.
Der Bürgermeister brummte, bewegte sich kurz, wurde aber nicht wach.
Kamose warf erneut etwas Erde, diesmal mit mehr Erfolg. Die Augen des Bürgermeisters öffneten sich.
»Kamose! Was tust du hier? Der Zugang zu meinem Garten ist dir wie jedem anderen Dorfbewohner verboten, das weißt du doch… Ich rufe den Wächter!«
»Wartet! Ich habe etwas mit Euch zu besprechen. Nur Ihr könnt mich anhören.«
Der Bürgermeister hatte ein pausbäckiges, fast rosafarbenes Gesicht. Die Sonnenstrahlen vermochten seine Haut kaum zu bräunen. Er hatte eine breite Nase, eine schmale Stirn, und den Mund formten zwei dicke, verfressene Lippen.
»Warst du noch nicht bei meinem Verwalter?«
»Die Angelegenheit ist zu wichtig.«
»Ich hasse es, wenn man mich in meinem Schlaf stört. Wie sollte ich die nötige Gesundheit bewahren können, um mich um das Dorf zu kümmern, wenn sich alle so verhalten würden wie du?«
»Es ist ein außergewöhnlicher Fall«, wiederholte Kamose fest.
»Das musst du mir erklären.«
»Ein Soldat namens Setek will unser Haus, unser Land und unser Hab und Gut stehlen.«
»Stehlen? Pass auf, was du sagst, Kamose! Verleumdung ist ein schweres Vergehen, das streng bestraft wird.«
»Setek ist nicht von hier. Er kommt aus Asien. Er hat keinerlei Recht dazu.«