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Die Priesterin sah Nofret aufmerksam an.

»Habe ich recht verstanden, du willst wegen einer so kleinen Angelegenheit eine Unterredung beim Pharao erreichen?«

»Das ist keine kleine Angelegenheit«, widersprach Nofret. »Es ist eine Ungerechtigkeit. Sie steht im Widerspruch zum ewigen Gesetz Ägyptens. Der Pharao steht für das Glück seines Volkes ein. Er ist dafür verantwortlich und darf sich seinen Pflichten nicht entziehen.«

»All das ist richtig«, räumte die Priesterin ein. »Aber verfügst du über Beweise für das, was du vorbringst?«

Nofret zögerte. Lügen war ihr zutiefst zuwider.

»Ich bin überzeugt von dem, was ich vorbringe.«

»Der Junge, den du liebst, hat großes Glück«, sagte die Priesterin. »Du bist wirklich sehr verliebt in ihn.«

»Als oberste der Priesterinnen seht Ihr den Pharao bisweilen«, begann Nofret und bat: »Könntet Ihr Euch zu unseren Gunsten einsetzen und ihn anflehen, uns eine Unterredung zu gewähren?«

»Das überschreitet bei weitem meine Vorrechte, Nofret. Wer ist dein Gefährte?«

»Ein junger Bauer, der in die Schreiberschule von Karnak eingetreten ist. Dort hat er erfolgreich seine erste Prüfung abgelegt.«

»Auch der König unterliegt den Regeln. Er wird ihn an die Gerichtsbarkeit der Schreiber verweisen.«

»Er beklagt sich über nichts. Er kämpft für das Glück seiner Eltern, denen man ihr Land gestohlen hat.«

»In diesem Fall wird das Kataster darüber urteilen.«

Nofret war verzweifelt. Es gab keinen Ausweg. Kamose war viel zu rechtschaffen, um seine Eltern dem eigenen Glück zu opfern. Und was Richter Rensi betraf, so hatte dieser sich seine Meinung gebildet und seine Entscheidung zu ihren Ungunsten gefällt.

So schien sich also auch das Schicksal entschieden zu haben. Aber Nofret würde es nicht hinnehmen. Sie war nicht willens, sich zu beugen, bevor sie nicht bis ans Ende ihrer Kräfte gekämpft hatte.

»Wenn Ihr mir keine Hilfe gewähren könnt, kann ich nur noch nach Hause zurückkehren und mich auf meinen nächsten Aufenthalt im Tempel vorbereiten.«

»Das wäre in der Tat weise.«

»Lasst Ihr mich zur Prozession anlässlich des schönen Talfests zu?«

»Das hängt von dir ab. Den Ritus der Braut des Nil hast du fehlerfrei vollzogen. Wärst du bei diesem Fest gerne Lichtträgerin?«

»Es wäre mein höchster Wunsch«, antwortete Nofret demütig.

»Wenn die Priesterinnen des geschlossenen Tempels damit einverstanden sind, so habe ich nichts dagegen.«

Ehrerbietig küsste Nofret die Hände der Priesterin und verließ die Terrasse des Tempels, um wieder in die Gärten hinunterzugehen.

Was verbarg sich hinter diesem plötzlichen Wandel? Aus der jungen leidenschaftlichen, verliebten Frau war von einem auf den anderen Moment eine ruhige, selbstbeherrschte Priesterin geworden. Man hätte schwören können, Nofret hätte plötzlich die Liebe vergessen, um sich nur noch ihren religiösen Aufgaben zu widmen.

Die Priesterin dachte über die letzten Fragen Nofrets nach. Sie wollte Lichtträgerin bei dem schönen Talfest werden, bei dem die Seelen der Toten auf dem westlichen Ufer mit denen der Lebenden in Kontakt traten.

Ein Fest, bei dem der Pharao seinen Palast in Theben verließ und sich an genau dieses Ufer begab.

Die Diener von Richter Rensi zitterten an allen Gliedern. Wutentbrannt war ihr Herr hereingekommen und hatte lautstark gedroht, den nächsten Urlaub zu streichen, falls man seine Tochter nicht innerhalb der nächsten Stunde finden würde.

Das gesamte Haus hatte sich auf die Suche nach ihr gemacht.

Vergeblich.

Tief besorgt ging der Richter in seinem Büro auf und ab, als Nofret in hinreißender Aufmachung in der Tür erschien. Sie war dezent geschminkt, trug ein neues Kleid, war barfuß und höchst elegant.

»Nofret, endlich! Wo warst du denn?«

»Entschuldigt bitte, dass ich Euch Sorgen bereitet habe, mein Vater. Ich war mit Kamose zusammen. Da Ihr ihm befohlen hattet, Euer Haus zu verlassen, sind wir auf dem Land spazieren gegangen.«

»Du kannst diesen Jungen nicht heiraten, Nofret. Das ist eine Torheit.«

Die junge Frau senkte gefügig den Kopf.

»Ich bin mir dessen bewusst geworden, mein Vater. Ich weiß, dass ich einen schweren Fehler begehen würde. Er und ich haben lange miteinander gesprochen. Wir haben eingesehen, dass wir einen falschen Weg eingeschlagen haben.«

Auf Richter Rensis Gesicht begann sich ein breites Lächeln abzuzeichnen.

»Willst du damit sagen… dass ihr endgültig miteinander gebrochen habt?«

Nofret hielt den Kopf weiter gesenkt.

»Ich bleibe hier, um mich auf die Rituale des schönen Talfests vorzubereiten. Ich hoffe, dabei eine wichtige Rolle zu bekommen.«

Rensi nahm seine Tochter in die Arme.

»Wie glücklich ich bin, Nofret! Ich wusste, dass dein Verstand über die Leidenschaft siegen würde. Du wirst diese Rolle bekommen. Verlass dich auf meine Hilfe.«

Kamose benutzte die Fähre, um auf das andere Ufer zu gelangen. Auf ihr fuhren Bauern, Esel und Ochsen. Zwischen Menschen, Tieren und Strohkörben voller Getreide und Gemüse blieb kein Daumenbreit Platz mehr.

Der Fährmann manövrierte sein schweres Schiff unglaublich geschickt. Mühelos nutzte er die Strömung.

Der junge Mann versank in der Betrachtung des göttlichen Stroms, der Ägypten jedes Jahr Wohlstand brachte, weil der Pharao gerecht gehandelt und ohne Fehler die Riten vollzogen hatte; der Pharao, der für die ewige Ordnung bürgte, der Mittler zwischen Himmel und Erde.

Der Pharao würde die Wahrheit ans Licht bringen. Es konnte nicht anders sein. Sonst wären all die Tempel, all die Pyramiden, all die Riten nur Lüge und Heuchelei. Sonst würde Kamose nichts anderes übrig bleiben, als in die Wüste zu gehen und auf immer die Welt der Menschen zu fliehen.

Aber da war Nofret… Nofret, die ihn jede Minute stärker liebte. Nofret, die den Weg gefunden zu haben glaubte, bei dem schönen Talfest eine Unterredung mit dem Pharao zuwege zu bringen. Zunächst wollte sie ihren Vater davon überzeugen, dass Kamose und sie endgültig miteinander gebrochen hätten, sie musste ihm vorgaukeln, dass sie eingesehen hätten, wie unmöglich ihre Liebe sei. Viel entscheidender aber war, dann die Rolle der Lichtträgerin während des Festes zu erhalten.

Nofret hoffte, es zu schaffen.

Sie musste es schaffen.

Der Fährmann, ein großer, magerer Mann, kam auf Kamose zu.

»Bist du der Sohn von Geru und Nedjemet?«

»Ich bin es. Aber warum…«

»Da ist ein Fischer, der dich überall sucht. Er hat vielen Fährleuten deine Beschreibung gegeben. Er erwartet dich auf dem Fischkai.«

»Was ist los?«, fragte Kamose. »Warum wolltest du mich so rasch sehen?«

Der Fischer war völlig durcheinander.

»Deine Mutter ist krank, Kamose. Seit zwei Tagen arbeitet sie nicht mehr.«

»Was hat sie?«

»Der Wanderarzt hat ihr Mittel gegeben, die nicht wirken. Der Bürgermeister wird einen Arzt aus Theben rufen. Weder dein Vater noch deine Mutter haben gewagt, darum zu bitten… Aber ich bin sicher, dass sie dich gerne bei sich hätten. Sie wissen, dass du im Tempel zurückgehalten wirst. Ich… ich habe ihnen nicht sagen können…«

Kamose geriet in Rage.

»Sprich! Was hast du ihnen verschwiegen?«

»Wir sollten uns gestern hier auf dem Kai treffen. Du bist nicht gekommen. Ich bin zum Tempel gegangen. Ich habe nach dir gefragt. Die Wachen im Viertel der Schreiber haben dich suchen lassen. Ich habe erfahren, dass du den Tempel verlassen hast, Kamose. Wenn deine Eltern das wüssten, würden sie vor Kummer sterben.«

»Das kannst du nicht verstehen«, entgegnete der junge Mann barsch. »All das hat keinerlei Bedeutung. Ich kehre mit dir ins Dorf zurück.«

Der Fischer und Kamose begaben sich mit eiligen Schritten zu dem Schiff, das den jungen Mann vor mehr als drei Jahren nach Theben gebracht hatte.