Am Rand des Kais stand ein Greis, der sich auf einen Stock stützte.
»Du wirst nicht zu diesem Boot hinuntersteigen«, erklärte der Alte. »Du kommst mit mir zurück in den Tempel.«
19
Kamose war verblüfft, den Alten hier zu sehen. Der junge Mann brauchte ein wenig Zeit, um sich von der Überraschung zu erholen.
»Ich muss nach Hause. Meine Mutter ist krank.«
»Ich weiß. Ich habe dir schon einmal geraten, nicht zu reden, wenn du nichts zu sagen hast. Du kommst zurück in den Tempel.«
»Ich weigere mich. Meine Mutter wartet auf mich.«
»Deine Mutter wartet nicht auf dich. Dieser Fischer hat ihr versichert, dass du dich auf deine zweite Schreiberprüfung vorbereitest. Wenn du zu ihr zurückkehrst, wird sie sofort begreifen, dass du durchgefallen bist. Kannst du dir ihren Kummer vorstellen?«
Kamose fühlte sich in einem Strudel gefangen, gegen den er keinen Widerstand leisten konnte.
»Ihr habt kein Herz… Ihr könnt nicht wissen, was ich empfinde…«
»Das ist mir in der Tat völlig gleichgültig. Natürlich bist du der einzige Sohn, der seine Mutter liebt. Schluss jetzt mit den Dummheiten! Du hast viel nachzuholen.«
Der Alte nahm den Stock zu Hilfe, verlieh damit seinen Schritten Nachdruck und wandte sich in Richtung Tempel. Kamose hatte weiche Knie und konnte den raschen Schritten des Alten nur mühsam folgen. Der Fischer stand reglos auf dem Kai und wusste nicht, was er denken sollte.
Ein junger Mann mit schwarzem Schnurrbart und einem Silberhalsband kam auf ihn zu. Er trug zwei Taschen.
»Bist du der Freund der Dame Nedjemet?«, fragte er ihn.
»Ja. Was willst du von ihr?«
»Sie heilen. Ich bin einer der Ärzte des Palastes. Du sollst mich zu ihrem Dorf führen.«
»Sitz nicht so niedergeschlagen da«, befahl der Alte Kamose. »Du machst dich lächerlich. Antworte auf meine Fragen.«
Der junge Mann fühlte sich kraftlos. In den letzten Stunden waren zu viele Aufregungen zusammengekommen. Auf der einen Seite war es tröstlich, wieder im Büro des Alten zu sein. Auf der anderen fühlte er sich als Gefangener böser Geister, gegen die zu kämpfen er keinen Mut mehr hatte.
»Ich habe keine Lust mehr, Schreiber zu werden«, sagte er schließlich. »Meine Mutter braucht mich.«
»Ein Kind soll seine Mutter lieben und ihr alles zurückgeben, was sie für es getan hat«, erwiderte der Alte. »Es muss ihr reichlich Brot geben und sie stützen, so wie sie es gestützt hat. Sie hat ihm das Leben gegeben und es jahrelang mit ihrer Milch ernährt. Sie empfand keinen Ekel, es zu säubern.«
»Wenn Ihr so denkt, warum hindert Ihr mich daran, nach Hause zurückzukehren?«
»Wisse, dass du frei entscheiden kannst, wohin du gehst, mein Junge, und dass ich mich um die Gesundheit deiner Mutter gekümmert habe. Aber gewiss reicht mein Wort dir nicht aus.«
Kamose kniete vor dem Alten nieder und küsste ihm die Füße.
»Die Höflichkeit kehrt wieder zu dir zurück. Das bestärkt mich in dem Glauben, dass Wunder möglich sind.«
»Wie könnte ich Euch danken…«
»Du wirst mir gegenüber nie genug Dankbarkeit besitzen. Es sei denn, du würdest meine Fragen ohne einen Fehler beantworten. Wir werden die Grammatik da aufnehmen, wo wir aufgehört haben, und mit der Lektüre eines juristischen Textes fortfahren. Hoffen wir, dass du nicht alles vergessen hast.«
Als er Kamoses Antworten hörte, verbarg der Alte seine Befriedigung und ließ ihn härter arbeiten als jeden anderen Schüler.
Der junge Mann hatte nicht nur nichts vergessen, sondern erkannte instinktiv die schwierigsten grammatikalischen Regeln. Es fiel ihm leicht, einen Text zusammenzufassen und dabei das Wichtige vom Unwichtigen zu trennen.
Sein Gedächtnis speicherte die Wörter mit erstaunlicher Geschwindigkeit.
Der Alte hatte sich nicht getäuscht. Er hatte hier einen Ausnahmeschüler vor sich, dessen inneres Feuer man leiten musste.
Eine Woche lang zwang der Alte Kamose dazu, Stunden um Stunden zu arbeiten und seine Schlafenszeit auf ein Minimum zu reduzieren. Der junge Mann nahm die Herausforderung an und war am Ende nicht einmal erschöpft. Auf diese Weise testete der Alte seine Widerstandskraft und seine Konzentrationsfähigkeit. Das Ergebnis war höchst erfreulich.
»Meister«, fragte Kamose zögernd, »ich würde gerne…«
»Glaubst du wirklich, du dürftest dir erlauben, mich um einen Gefallen zu bitten? Du hast gerade mal deinen Rückstand aufgeholt. Die Prüfung findet in weniger als einem Monat statt. Du weißt, dass der Zustand deiner Mutter sich nicht verschlechtert hat, – um was solltest du dich anderes kümmern dürfen als um das Lernen?«
»Ich erkenne meine Fehler an. Aber ich würde gern…«
»Ich schenke dir den Nachmittag. Bei Sonnenuntergang musst du zurück sein. Sonst schließen sich die Tore des Tempels endgültig für dich.«
Es war die Stunde der größten Hitze des Tages. Auf den Feldern hielten die Bauern ihren Mittagsschlaf unter einer Akazie oder einer Tamariske. Auch die Ochsen und Hunde suchten ein wenig Schatten. Die Adligen in den Villen dösten unter ihren Lauben. Die Arbeit ruhte so lange, bis die Sonne weniger stark brennen würde.
Selbst die Krokodile waren eingeschlafen. Da die Fähre erst losfahren würde, wenn sie maximal beladen war, überquerte Kamose den Nil schwimmend.
Nofret hatte versprochen, ihn jeden Tag zu dieser Stunde in dem Palmenhain zu erwarten, in dem sie sich ihre Liebe gestanden hatten. Niemand würde sie dort überraschen.
Der junge Mann schwamm schnell. Das Wasser klatschte gegen seinen Körper. Er rannte bis zum vereinbarten Treffpunkt. Seine bloßen Füße spürten weder den Sand noch die glühend heißen Steine.
Kamose hätte seine Freude am liebsten hinausgeschrieen.
Aber der Schrei blieb in seiner Brust stecken. Die Oase war leer.
Kamose lief um die Palmen, den Brunnen herum, suchte den Ort ungläubig ein zweites Mal ab, ein drittes Mal…
Nofrets Abwesenheit konnte nur eine einzige Erklärung haben: Sie hatte ihn verraten. Sie hatte ihrem Vater gehorcht, weil ihr klar geworden war, dass sie sich ihren künftigen Mann aus der Kaste der Adligen auswählen musste.
Kamose ließ sich am Fuß einer Palme niedersinken. Niemals mehr würde er dem Wort einer Frau Glauben schenken.
Er ließ sich von der Müdigkeit übermannen. Er hatte keine Lust mehr, zu kämpfen. Im Schatten der Palmen schlief er ein.
Das Land war übersät mit Blumen. Tausende von Bauern jubelten Kamose und Nofret zu, die sich umschlungen hielten. Der Pharao persönlich leitete die Zeremonie.
Nofret küsste Kamose. Der Geschmack ihrer kühlen Lippen erregte sein Herz. Er schloss sie in die Arme.
»Nicht so stürmisch, mein Geliebter.«
Der junge Mann öffnete die Augen.
Sie war da. Direkt vor ihm. Er drückte sie an sich.
»Du bist kein Traum…«
»Nein, Kamose. Ich bin real. Aber du hast geträumt.«
»Wir haben in Anwesenheit des Pharao geheiratet, und man jubelte uns zu.«
»Du wirst hochtrabend«, sagte sie lächelnd. »Mir wäre ein wenig Zurückhaltung lieber.«
»Warum bist du so spät gekommen?«
»Der Koch meines Vaters hatte ein vorzügliches Essen vorbereitet, auf das er besonders stolz war. Ich war gezwungen, von allen Gerichten zu probieren. Die Diener der Villa haben den Befehl erhalten, mich zu überwachen. Richter Rensi ist nicht naiv. Ich glaube, ich habe ihn überzeugt, aber ich bleibe lieber vorsichtig.«
»Ich habe nicht viel Zeit«, sagte Kamose. »Vor Sonnenuntergang muss ich wieder im Tempel sein. Der Alte lässt mich härter arbeiten als einen Lastesel.«
»Ich habe gute Neuigkeiten«, verkündete sie hoffnungsfroh. »Ich habe mich in den Tempel von Deir el-Bahari begeben und mich noch einmal mit der obersten Priesterin getroffen. Ganz bestimmt vertraut man mir bei dem Fest die Aufgabe der Lichtträgerin an.«