Die Priester verließen das Dach des Tempels.
Nach einem rituellen Bad würden sie nun ein paar Stunden ruhen. Mit dem anbrechenden Tag begann das Kommen und Gehen der Priester. Die mit den Opfergaben Beauftragten reinigten sich im heiligen See.
Am Fuß der Treppe, die in den geschlossenen Tempel führte, saß der Alte, die Hände auf seinem Stock.
»Hast du eine gute Nacht verbracht, Kamose?«
»Es war fantastisch!«, erklärte der junge Mann. »Warum werden diese Kenntnisse nicht allen Menschen vermittelt?«
»Weil sie nicht bereit sind, sie zu empfangen, mein Junge. Lass sie glücklich in ihren Glaubensvorstellungen leben. Du hingegen sollst ins Reich der Erkenntnis eintreten. Die Erkenntnis – und zwar sie allein – ist es, die dir die Wege zur Ewigkeit öffnen wird. Die Erkenntnis… nicht das reine Wissen oder der Glaube. Bist du zu müde, mir zu folgen?«
»Natürlich nicht!«
Der Alte und sein Schüler verließen den Tempel. Ein von zwei Pferden gezogener Wagen erwartete sie. Ein Soldat hielt die Zügel.
»Mir graut vor diesem Gerät«, erklärte der Alte. »Es fährt zu schnell!«
Der Soldat achtete darauf, die Buckel auf dem Weg zu vermeiden, der zur Anlegestelle führte.
»Überqueren wir den Nil?«, fragte Kamose.
»Ja, wir begeben uns tatsächlich auf das Westufer«, erklärte der Alte. »Diese Reise habe ich schon zehn Jahre nicht mehr gemacht. Ich habe leider keine andere Möglichkeit, dir ein bedeutsames Zeichen zu zeigen.«
Wer hätte der Herrlichkeit der Morgendämmerung überdrüssig werden können? Wer hätte darauf verzichten wollen, anzusehen, wie der von goldenen Strahlen umflutete Sonnenfluss aus der Dunkelheit auftauchte? Nachdem Kamose die Nacht durchwacht hatte, entdeckte er nun zum ersten Mal die Herrlichkeit des Tages. Der Tag erschien ihm wie der Triumph der Jugend. Wie der Sieg seiner eigenen Jugend.
Ein weiterer Wagen fuhr den Alten und seinen Schüler von der Anlegestelle am Westufer zum Dorfeingang von Deir el-Medineh, wo die Handwerker wohnten, die den Auftrag hatten, die Pharaonengräber zu graben und sie entsprechend der vom Tempel gelehrten Symbolik zu schmücken. Ein von einer lang gezogenen Pyramide überragtes Grab markierte die Schwelle zu dem Bereich, der der Zunft vorbehalten war.
Die Wächter verneigten sich vor dem Alten. Sie erkannten ihn sofort, hatte er doch dem Meister der Zunft die Bedeutung der Hieroglyphen beigebracht. Sie trugen keine Waffen, sondern Steinmetzhämmer. Sie führten den Alten und den Schüler zum Eingang des Grabes.
Kamose entdeckte einen steil hinabführenden Gang.
»Bück dich«, befahl der Alte, »und geh ganz langsam. Wenn du aufrecht stehen kannst, bist du am Ziel.«
Zum ersten Mal betrat Kamose eine Ruhestätte der Ewigkeit. Er wusste, dass sie nicht nur dazu bestimmt war, einen Leichnam zu bergen, sondern auch, die wiederauferstehende Leiche vor äußeren Beeinträchtigungen zu schützen.
Beklommen betrat er den engen Gang, in dem er sich gebückt vorwärts bewegte. Ein Licht leitete ihn.
Als er die Grabkammer entdeckte, erstaunte er erneut. Die Wände und das halbrunde Gewölbe waren über und über mit Malereien in leuchtenden Farben bedeckt.
Der Alte trat zu ihm.
»Sieh dir diese Wand an«, befahl er.
Kamose traute seinen Augen nicht. Er sah einen Mann und eine Frau, die auf den Feldern arbeiteten, er mähte, sie säte. Auf einer benachbarten Szene pflügte er, seine Frau ging hinter ihm her.
»Aber… das sind meine Eltern!«
»Ja und nein«, antwortete der Alte. »Es ist eine Darstellung der himmlischen Paradiese. Sieh dir den höchsten Punkt der Wand an.«
Kamose erkannte den Sonnengott in seiner Barke.
»Das göttliche Licht badet das gesamte Universum, Kamose. Die Ewigkeit ist voller herrlicher Felder, auf denen die Gerechten weiter arbeiten, um jene zu ernähren, die auf der Erde geblieben sind und nach Weisheit streben.«
Kamose war zutiefst verstört. Er blieb davon überzeugt, dass wirklich seine Eltern auf der Wand dieser Ruhestätte der Ewigkeit dargestellt seien.
»Meditiere an diesem Ort«, empfahl der Alte. »Du kennst genügend Hieroglyphen, um die Texte zu entziffern, die die Szenen erklären. Wisse, dass der Skarabäus das Symbol der Verwandlung, der Phönix das der Wiedergeburt, die Schwalbe das der Wiederauferstehung ist. Wenn du dich bereit fühlst, so steig wieder ans Tageslicht empor.«
Kamose blieb den ganzen Tag im Grab. Er entzifferte alle Texte und prägte sich die Szenen ein. Er hatte das Gefühl, sich im Inneren eines Papyrus zu befinden und selbst zu einer von einem Schreiber gezeichneten Hieroglyphe zu werden.
Als er ans Licht zurückkam, hüllte der Sonnenuntergang das thebanische Westgebirge in ockerfarbenes Licht.
Der Alte saß wie unerschütterlich auf einem Erdhügel und betrachtete den Sonnenuntergang.
»Da bin ich, Meister. Was habt Ihr noch für eine Überraschung für mich?«
»Wir kehren in den Tempel zurück, Kamose. Du musst jetzt schlafen.«
»Ich habe keine Lust.«
»Und doch musst du es. Morgen findet die Hauptprüfung statt.«
21
Es waren insgesamt fünfzig Kandidaten, die aus allen Provinzen Ägyptens kamen. Sie bildeten die künftige geistige Elite des Landes. Wer die Prüfung der Schule von Karnak bestand, erhielt Zugang zu den höchsten Verwaltungsaufgaben. Die meisten unter ihnen würden jedoch beim ersten Versuch scheitern.
Mit Ausnahme von Kamose waren alle von begüterten Eltern, Adligen oder Provinzfürsten empfohlen worden. Manche dachten, auf diese Weise einen Vorteil zu haben.
Sie täuschten sich.
Unter den Prüfern waren ebenso viele Kinder von Adligen wie aus einfachen Familien. Die soziale Herkunft der Kandidaten hatte keine große Bedeutung. Was in den Augen der Prüfer zählte, waren die Kenntnisse der Kandidaten und ihre Fähigkeit, in Zusammenhängen zu denken.
Die Prüfungen würden eine ganze Woche dauern. Sie würden die Beherrschung der Hieroglyphensprache zum Inhalt haben, die verschiedenen Formen der Schrift, Geometrie und Astronomie. Und die Kandidaten würden unterschiedliche Formen von Texten – religiöse, wissenschaftliche und Verwaltungstexte – abfassen müssen.
Danach würde ein Gespräch mit Schreibern stattfinden, die zu Fachleuten in den verschiedenen Disziplinen geworden waren.
Während der gesamten Dauer der schriftlichen Prüfungen schwieg Kamose. Er sprach mit niemandem, hielt sich abseits des Getuschels, hörte auf keinen Rat und schenkte nicht der geringsten Indiskretion Gehör. Er blieb in sich verschlossen und versuchte, ununterbrochen konzentriert zu bleiben. Selbst im Schlaf hielt er seinen Geist weiter wach.
Die Themen schienen ihm äußerst schwierig. Nur die Geometrie stellte wegen seiner bei den Handwerkern erworbenen Erfahrung kein unüberwindliches Problem für ihn dar. Bei allem anderen stellte er fest, wie kurz seine Ausbildung trotz aller Intensität gewesen war.
Wieder einmal war Kamose also gezwungen, sich auf seine Intuition zu verlassen, um sein fehlendes Wissen auszugleichen. Er war sich bewusst, dass er sich ins Unbekannte stürzte und unweigerlich schwere Fehler begehen würde.
Während der mündlichen Prüfungen hätten seine Nerven mehrere Male beinahe nicht standgehalten. Die Prüfer waren kleinlich und mürrisch. Kamose fand die Geisteshaltung mancher unter ihnen erbärmlich. Sie versuchten nicht, den Kandidaten zu verstehen, seine tieferen Eigenschaften zu beurteilen, sondern nur, ihn in Schwierigkeiten zu bringen.
Erschöpft kehrte er in das Büro des Alten zurück, der noch immer damit beschäftigt war, in Spalten Hieroglyphen zu schreiben.
Der Meister tat, als bemerke er Kamoses Anwesenheit nicht.
Kamose schätzte das Ausruhen und die Stille. Er dämmerte eine ganze Weile vor sich hin, bevor er zu sprechen anfing.