Skar betrachtete sie für einen Moment. Ihre Anwesenheit überraschte ihn. Sie war nicht die Art von Frau, wie man sie normalerweise in RACHES WACHT antraf. Ihrer Kleidung nach hätte sie eine Tempeldirne sein können, obgleich sie dafür schon fast ein wenig zu alt schien - vierzig, vielleicht fünfundvierzig; auf eine seltsam reizvolle Art sah man ihr ihr Alter durchaus an, aber sie wirkte dennoch jugendlich, energisch und agil trotz der vollkommenen Reglosigkeit, in der sie dahockte. Aber es war etwas in ihrem Gesicht, das ihm sagte, daß sie keine Tempeldirne war: etwas wie Stolz oder vielleicht eher Selbstbewußtsein - Stärke, korrigierte er sich in Gedanken - Stärke trotz des entspannten Ausdruckes auf ihren Zügen, wie man sie selten bei Menschen in diesem Teil der Welt und noch seltener bei einer Frau fand. Ihre Hände, die im Schoß gefaltet waren, wirkten sehnig und schlank, doch es war jene Art von Schlankheit, hinter der sich oft große Kraft verbirgt, und die Ausbuchtungen unter ihren Achseln verrieten Skar, daß sie zumindest mit Wurfdolchen bewaffnet war.
Sie sah auf, begegnete für die Dauer eines halben Lidschlages seinem Blick und wandte dann wieder den Kopf.
Auch Skar sah hastig weg. Es war nicht seine Art, Fremde anzustarren und sie dadurch in Verlegenheit zu bringen. Und er war nicht hier, um sich den Kopf über die Probleme Fremder zu zerbrechen. Probleme hatte er selbst mehr als genug.
Rache räusperte sich lautstark, schwang den gefüllten Krug wie eine Siegestrophäe und kam auf seinen kurzen Beinen herübergewatschelt. Er roch nach Fisch und Fett und eingetrocknetem Schweiß, und sein Gesicht glänzte ölig, aber das nahm Skar kaum mehr wahr. Der üble Geruch und die grobe Art sich zu geben, gehörten ebenso unverwechselbar zu Rache wie die dunklen Ringe unter den Augen und der zweischneidige Dolch in seinem Gürtel. Raches äußere Erscheinung täuschte, aber Skar wußte auch, daß er den dümmlichen Ausdruck auf seinem Gesicht und die tolpatschige Weise, sich zu bewegen, sorgsam pflegte. Er mochte ständig aussehen, als würde er im nächsten Moment im Gehen einschlafen, aber die schmalen trüben Augen registrierten jede Kleinigkeit, und wie schnell er mit dem Messer sein konnte, hatte schon mancher leichtsinnige Raufbold feststellen müssen.
Rache stellte den Krug vor ihm ab, legte einen halben Laib Brot daneben und grinste. »Wie immer, Skar?«
Skar nickte. »Wie immer, Rache.« Er machte eine einladende Handbewegung, griff nach dem Becher, kostete und verzog das Gesicht zu einer Miene, die sowohl Anerkennung als auch das genaue Gegenteil ausdrücken konnte. Rache würde sich - je nach Laune - das heraussuchen, was ihm gerade paßte.
Der Wirt seufzte, nahm neben ihm Platz und sah kopfschüttelnd zu, wie er Brot und Wein ohne sichtliche Begeisterung zu verzehren begann. »Wann«, murmelte er, »wirst du dir endlich angewöhnen, eine Scheibe Braten zum Wein zu nehmen? Du beleidigst meine Feinschmeckerseele.«
Skar grinste und biß in sein Brot. »Dann, wenn du dir angewöhnt hast, Fleisch vom Ochsen oder Schwein anzubieten statt gedünstete Ratten«, erwiderte er kauend. »Und wenn du deinen eigenen Geiz so weit überwindest, Tische und Stühle anzuschaffen. Du beleidigst meine Gesäßmuskeln«, fügte er, Raches Tonfall genau nachahmend, hinzu.
Der Wirt verzog das Gesicht, als hätte er unversehens auf einen Stein gebissen. »Ich weiß, daß du mich für einen einfältigen Gimpel hältst«, seufzte er, »aber so einfältig bin ich nun auch wieder nicht.« Er seufzte wieder, hob die Arme über den Kopf und verschränkte die Hände hinter dem Nacken. »Es gab eine Zeit«, fuhr er schwärmerisch fort, »da hatte ich eine noble Herberge mit erlesenen Gästen, den besten Weinen und Speisen, um die mich so mancher Edelmann beneidet hätte. Aber diese Barbaren zerschlagen mir die Einrichtung schneller, als ich sie ersetzen kann. Das Geschäft wirft gerade genug ab, um mich und meine Familie vor dem sicheren Hungertod zu bewahren, und ich kann es mir einfach nicht leisten, ständig mit Verlust zu arbeiten.«
»Verwässerst du deshalb deinen Wein?« fragte Skar ernsthaft. Rache überging die Bemerkung, als hätte er sie nicht gehört. »Auf dem Boden zu sitzen, ist gesund«, fuhr er ungerührt fort. »Wo keine Möbel sind, kann man auch keine zerschlagen. Und ein Stuhl, der nicht da ist, kann auch schwerlich auf irgendeinem Kopf zertrümmert werden.« Er grinste, nahm die Arme herunter und wurde übergangslos ernst. »Du bist allein hier?«
»Wie du siehst.«
Rache drehte den Kopf nach rechts und links, als müsse er sich tatsächlich davon überzeugen, daß Skar die Wahrheit sprach. »Und Del?«
Skar hob andeutungsweise die Schultern, drehte den Becher in den Händen und nahm einen vorsichtigen Schluck, ehe er antwortete. »Ich hatte gehofft, ihn hier zu finden. Er ist gestern mittag weggegangen und die ganze Nacht nicht zurückgekommen.« Rache wiegte den Schädel, nickte dann und fuhr sich mit den Fingern über das schmierige Lederwams, das er auf dem nackten Leib trug. »Und jetzt fängst du an, dir Sorgen um ihn zu machen und suchst ihn in der ganzen Stadt?« feixte er.
»Wahrscheinlich ist er bei irgendeinem Mädchen«, sagte Skar mit einem resignierenden Seufzer. »Ich werde ihn gründlich zusammenstauchen, wenn ich ihn gefunden habe.« Aber schon der Ton, in dem er die Worte sprach, zeigte deutlich, wie gut er wußte, daß es sinnlos sein würde, Del irgend etwas zu sagen.
»Denkst du nicht, daß er alt genug ist, um zu wissen, was er tut?« fragte Rache.
»Manchmal bezweifle ich es ernsthaft«, brummte Skar. »Von mir aus kann er sich mit allen Freudenmädchen Iknes amüsieren, nacheinander oder zugleich. Aber heute ist nicht irgendein Tag. Es wäre besser, er würde sich ausruhen.«
»Wahrscheinlich tut er genau das in diesem Moment«, vermutete Rache, »wenn auch in den Armen eines schönen Mädchens.« Er bleckte die Zähne, beugte sich vor und nahm einen Schluck aus Skars Becher, bevor er auch eine Kante von dessen Brot abbrach und es mit hörbarem Schmatzen verzehrte. »Reg dich nicht auf«, sagte er, als er Skars Stirnrunzeln bemerkte. »Du bist mein Gast. Die Runde geht auf meine Rechnung.«
»Hätte ich das gewußt, hätte ich vielleicht doch ein Stück Braten genommen.«
»Eben darum habe ich es dir nicht vorher gesagt.« Rache schenkte nach und reichte Skar mit spitzen Fingern den Becher. Skar trank einen Schluck, brummte etwas und sah den Wirt gleichermaßen überrascht wie mißtrauisch an. »Woher kommt diese plötzliche Großzügigkeit?« fragte er lauernd. »Ich dachte bisher, du wärest der geizigste Mensch in diesem Teil der Welt.«
Rache brach ein weiteres Stück von Skars Brot ab. »Du tust mir unrecht«, sagte er vorwurfsvoll. »Aber daran habe ich mich mittlerweile gewöhnt. Außerdem betrachte ich es als Geldanlage - immerhin habe ich ein hübsches Sümmchen auf Del und dich gesetzt.« Diesmal war Skars Überraschung sehr groß. »Du riskierst Geld beim Wetten?« fragte er verblüfft.
»Warum denn nicht? Wenn ich sicher bin zu gewinnen. Von dem bißchen, das diese Schänke abwirft, kann ich nicht leben.«
Skar überging den letzten Teil von Raches Antwort. »Sicher ist man nie, Rache.«
»In diesem Fall schon«, widersprach der Wirt. »Ich kenne euch beide gut genug. Es gibt keinen, der euch bezwingen könnte, schon gar nicht diese zwei Narren aus Kohon. Mein Geld ist sicher angelegt, glaube mir. Du solltest auf meinen Rat hören und auch ein paar Dim setzen. Auf dich.«
»Hast du dich deshalb nach Del erkundigt?«
Rache nickte. »Ich sehe gerne die Ware, in die ich investiere. Und ich sorge natürlich für ihr leibliches Wohl«, fügte er mit einer Kopfbewegung auf den Becher in Skars Händen hinzu und schob gleichzeitig ein weiteres Stück Brot in den Mund.