Gowenna stieß einen erleichterten Schrei aus und trat hastig drei, vier Schritte zurück. Das Tor zitterte, schwang, wie von Geisterhand bewegt, nach außen auf und kam mit einem hörbaren Ächzen zum Stillstand. Skar sah, daß die Flügel aus massivem Metall bestanden. Trotzdem hatten sie sich in der Hitze verzogen, so daß wahrscheinlich nicht einmal die Kraft eines Drachen ausgereicht hätte, sie weiter zu öffnen. Aber der entstandene Spalt reichte, ein Pferd hindurchzulassen.
Gowenna taumelte mit einem erlösenden Aufschrei durch die Öffnung. Ihr Gesicht verzerrte sich vor Schmerz, als sie das heiße Metall mit der Schulter berührte. Sie wankte, stolperte weiter und war im nächsten Augenblick im Inneren des Gebäudes verschwunden. Hinter ihr drängten die drei Sumpfmänner hinein.
Skar wartete geduldig, bis alle außer ihm und dem Zwerg im Schutz des Gebäudes waren. Er drängte sein Tier neben das des Zwerges, riß brutal an den Zügeln und schüttelte den Kopf, als Tantor an ihm vorbeireiten wollte.
»Dir scheint das alles ja am wenigsten auszumachen!« schrie er über das Brüllen des Sturmes hinweg. »Also kümmere dich um die Packpferde! Treib sie zusammen und schick sie rein!«
Tantor begann mit seiner hohen Fistelstimme zu protestieren, aber Skar beachtete ihn nicht weiter. Er haßte den Zwerg, haßte ihn mit jedem Tag, an dem er mit ihm zusammen sein mußte, mehr, und er machte kein Hehl daraus. Irgendwo, in einer boshaften Ecke seines Bewußtseins, schlummerte die Hoffnung, den Zwerg eines Tages zu einem Angriff reizen zu können. Es würde ihm ein Vergnügen sein, ihm den Hals umzudrehen.
Er sprang aus dem Sattel, streifte seinen Umhang ab und führte sein Pferd am Zügel durch das Tor.
Im ersten Moment sah er nichts. Es gab Licht im Inneren des Hauses, graues, fahles Licht, das aus keiner bestimmbaren Quelle kam und wie körperloser Nebel überall war. Seine Augen waren aber an die unerträgliche Helligkeit draußen gewöhnt und brauchten eine Weile, um sich umzustellen, so daß er die Gestalten der anderen im ersten Moment nur als vage Schatten erkennen konnte. Und es war kühl, viel kühler, als er erwartet hatte.
Er wankte bis in die Mitte des Raumes, ließ sich mit einem erleichterten Seufzer in die Knie sinken und atmete fünfzehn-, zwanzigmal hintereinander tief ein und aus. Sein Herz begann plötzlich zu rasen. Übelkeit stieg in ihm auf, und mit einem Mal, unvermittelt, fror er. Sein Körper revoltierte endgültig gegen die Belastung. Er krümmte sich zusammen, verkrampfte die Hände über dem Magen und kämpfte vergeblich gegen den immer stärker werdenden Brechreiz an.
Die Übelkeit wurde schlimmer. In seiner Brust saß plötzlich ein böser, bohrender Schmerz, eine schneidende Wunde, aus der dünne, brennende Schmerzlinien durch seinen Körper schössen. Er erkannte die Symptome beinahe zu spät. Er fiel vornüber, krümmte sich noch mehr zusammen und versuchte verzweifelt, an seinen Brustbeutel zu gelangen. Seine Hände verkrampften sich, wurden zu nutzlosen, hornigen Strünken und verkrümmten Krallen, die nicht mehr fähig waren, den Knoten zu lösen.
Nein, dachte er. Nicht jetzt! Nicht vor den anderen! Nicht so früh!
Aber es wurde noch schlimmer. Der Krampf breitete sich in seinem ganzen Körper aus. Skar wälzte sich auf den Rücken, schrie, griff mit starren, bewegungsunfähigen Händen an seinen Hals, zerrte den Beutel unter dem Wams hervor und versuchte vergeblich, ihn zu zerreißen, zwischen die Zähne zu bekommen, um das Leder zu zerfetzen, eine der kostbaren Kugeln schlucken zu können ... Eine unmenschliche starke Hand packte ihn an der Schulter und riß ihn herum, preßte ihn mit unwiderstehlicher Kraft gegen den Boden. Der Beutel wurde ihm entrissen. Dürre, knochige Finger zwängten seine Zähne auseinander, schoben etwas Kleines, Glattes in seinen Mund und drückten auf seine Kehle, bohrten sich mit schmerzhaftem Druck unter seine Zunge, damit er schluckte. Er wußte nicht, wie lange es dauerte. Er blieb bei Bewußtsein, aber die Welt um ihn herum wurde unwirklich, transparent, die anderen waren nicht mehr als halbdurchsichtige Schatten, die mit hohlen, grausig verzerrten Stimmen redeten. Sein Zeitgefühl erlosch, dann verschwand der Schmerz, und irgendwann wurde die Well wieder normal. Farben und Formen nahmen ihr gewohntes Aussehen an, und die Stimmen der anderen waren wieder Stimmen, kein grausames Hohngelächter mehr.
Er richtete sich auf die Ellenbogen auf, schüttelte den Kopf, um die Benommenheit hinter seiner Stirn zu vertreiben, stöhnte. Seine eigene Stimme klang fremd in seinen Ohren.
Er sah auf, als er Schritte hörte.
»Geht es dir besser?« fragte Gowenna.
Skar nickte und versuchte zu lächeln. Es mißlang. Irrsinnigerweise spürte er aber ein Gefühl ungeheurer Kraft in sich aufsteigen, als wäre tief in seinem Inneren ein Tor aufgestoßen worden, durch das nun frische Energie wie eine Flutwelle in seinen Körper strömte. »Ich ... ich fühle mich gut«, antwortete er. »Aber es war so früh. Ich ...«
»Die Anstrengung«, sagte Gowenna. »Dein Körper hat mehr als doppelt soviel gebraucht wie normal. Doppelt soviel Kraft, doppelt soviel Wasser... und wohl auch doppelt soviel van dem da.« Sie wies mit einer Kopfbewegung auf den Lederbeutel, der jetzt offen und für alle sichtbar auf Skars Brust lag. Skar fuhr erschrocken hoch und legte die Hand darüber. Er hatte plötzlich das Gefühl, von allen angestarrt zu werden.
»Wer hat mir ... geholfen ?« fragte er.
»El-tra«, antwortete Gowenna. »Er war der einzige, der die Kraft hatte, deine Kiefer auseinanderzubringen. Du solltest noch eine Ration nehmen, ehe wir in die Stadt vordringen. Wenn dir das gleiche noch einmal passiert, und es ist keiner von ihnen in deiner Nähe, bist du verloren.«
Skar erschrak. Seine Finger glitten in einer unbewußten Bewegung über den Beutel, und für einen Moment kam es ihm vor, als wäre er bereits merklich dünner geworden.
»Wie viele ... hat er mir gegeben?« fragte er stockend.
»Zwei.«
Zwei! Das bedeutete vier Tage. Vier Tage weniger leben, vier Tage weniger Zeit, um zurückzukommen. Und Gowenna hatte recht - er würde eine zusätzliche Ration nehmen müssen, ehe sie Combat betraten. Er wußte nicht, was sie erwartete, und sie mochten in Situationen geraten, in denen ihm auch die Sumpfmänner nicht mehr helfen konnten. Also sechs Tage. Selbst wenn von diesem Moment an alles glatt verlief, hatte er kaum mehr eine Chance. Für einen winzigen Moment verspürte er Haß, Haß, geboren aus dem Gefühl der Verzweiflung und Hilflosigkeit, Haß auf den Menschen, der schuld an seiner Lage war. Aber nur für einen Moment. Wie zuvor fühlte er sich unfähig, Vela wirklich zu hassen. Er versuchte es, aber es ging nicht.
Er schüttelte den Gedanken mit sichtlicher Anstrengung ab, verbarg den Beutel wieder unter seinem Wams und stand umständlich auf. Erneut durchströmte ihn ein Gefühl unbezwingbarer Kraft, aber jetzt wußte er, woher es kam. Und er wußte auch, welchen Preis er dafür zu zahlen hatte.
Gemeinsam mit Gowenna ging er zu den anderen hinüber. Auch Beral schien sich mittlerweile erholt zu haben. Er hockte noch immer zusammengesunken und mit grauem Gesicht auf dem Boden, aber sein Blick war wieder klar, und als er Skar sah, rang er sich sogar ein flüchtiges Lächeln ab.
»Nun«, sagte Tantor, »jetzt, wo wir alle ausgeschlafen haben, können wir vielleicht beginnen.«
Skar schenkte dem Zwerg einen wütenden Blick und hockte sich zwischen die anderen. Sie hatten einen weiten, an einer Seite offenen Kreis gebildet, in dessen Zentrum ein Feuer, genährt von zerrissenen Decken und Abfällen, brannte; eine dünne, flackernde gelbe Flamme, über der ein gußeiserner Topf auf einem Dreibein hing. »Die Salbe ist fertig«, erklärte Tantor mit einer Geste auf den Kessel. »Ihr müßt sie heiß auftragen, wenn sie gut auf der Haut haften soll.«