Die großen Tore waren jetzt geschlossen. Der Raum war von unzähligen Fackeln taghell erleuchtet, und ein Geruch nach Feuchtigkeit und brennendem Teer hing in der Luft. Längs der Wände waren an die hundert Soldaten postiert, und ein zweiter, kaum weniger starker Trupp hatte hinter dem Mann Aufstellung genommen, der ihnen finster entgegenblickte. Skar näherte sich ihm bis auf vier, fünf Schritte, blieb stehen und legte herausfordernd die Hand auf den Schwertgriff; eine Geste, die angesichts der hoffnungslosen Übermacht, der sie gegenüberstanden, allenfalls symbolische Bedeutung hatte. Trotzdem schien sie die beabsichtigte Wirkung nicht zu verfehlen.
»Es freut mich, daß Ihr vernünftig wart und meinen Soldaten keinen Widerstand entgegengesetzt habt«, sagte der Kommandant. Er war ein kleiner, zerknittert wirkender alter Mann mit strähnigem Haar und entzündeten Augen. Seine Gestalt schien in der wallenden roten Toga, in die er sich gehüllt hatte, schier zu ertrinken, und der barbarische Helm auf seinem Haupt wirkte schlichtweg lächerlich. Aber seine Stimme war fest, und irgend etwas an seiner Art sagte Skar, daß er sich den Rang des Stadtkommandanten erkämpft und nicht erschlichen hatte. Ein Mann, vor dem er auf der Hut sein mußte.
»Wir konnten der freundlichen Einladung nicht widerstehen«, sagte Skar spöttisch. »Um so mehr, als wir immer noch nicht wissen, welchem Umstand wir diese Ehre zu verdanken haben.«
Zwischen den Brauen des Kommandanten entstand eine steile Falte. »Es ist Euer gutes Recht, Euch zu verteidigen, Satai«, sagte er scharf, »aber versucht nicht, mich für dümmer zu halten, als ich bin.«
Del wollte auffahren, aber Skar brachte ihn mit einem zwingenden Blick zum Schweigen.
»Verzeiht«, sagte er betont freundlich, »wenn dieser Eindruck entstand. Wir wollten Euch nicht beleidigen. Aber wir wären Euch dankbar für eine Erklärung.« Er deutete mit einer Kopfbewegung auf die Soldaten, die hinter und neben ihnen Aufstellung genommen hatten. »Ich nehme an, daß wir uns als festgenommen betrachten können.«
»Das könnt Ihr, Satai.«
»Und warum?« fragte Skar. »Ich meine - welches Verbrechen werft Ihr uns vor?«
Der Kommandant antwortete nicht gleich. Die letzte Spur von Freundlichkeit wich aus seinem Gesicht, und seine Stimme klang schärfer als vorher, als er antwortete. »Wenn es Euch beliebt, den Narren zu spielen - bitte«, sagte er. »Wir werfen Euch vor, das Volk von Ikne betrogen zu haben.«
Skar lächelte sanft. »Mehr nicht?«
»Euer Plan war nicht einmal sonderlich intelligent«, fuhr der Kommandant fort. »Aber es ist nicht meine Aufgabe, über Eure Motive nachzudenken. Ich stelle nur die Tatsachen fest und übergebe Euch den Gerichten. Obgleich es mir, offengestanden, ein Rätsel ist, daß zwei Männer wie Ihr sich auf ein so dummes Unterfangen eingelassen haben.«
Skar seufzte. »Ich weiß zwar immer noch nicht, wovon Ihr redet, aber -«
»Stellt Euch nicht dumm!« zischte der Kommandant. Für einen Moment huschte ein Schatten von Wut über seine Züge, aber er hatte sich sofort wieder in der Gewalt. »Ihr hättet diesen Kampf gewinnen müssen, Satai. Selbst mit verbundenen Augen und nur einem Arm. Sogar mein zehnjähriger Enkel hätte gegen diese Kohoner eine bessere Figur abgegeben als Ihr und Euer Kamerad!«
»Wenn es Kohoner gewesen wären!« fiel ihm Del hitzig ins Wort. »Ihr wißt so gut wie wir, daß wir getäuscht wurden!«
Ein dünnes, beinahe nachsichtiges Lächeln huschte über das Gesicht des Kommandanten. »Es tut mir leid, wenn ich Euch nicht folgen kann, Satai«, sagte er ruhig. »Das einzige, was ich mit Sicherheit weiß, ist, daß wir getäuscht wurden - das Volk von Ikne und seine Könige. Ihr werdet Euch dafür zu verantworten haben.«
»Aber das ist Wahnsinn!« schrie Del.
Skar warf ihm einen warnenden Blick zu, doch Dels Vorrat an Geduld schien endgültig erschöpft zu sein. Er trat mit einem wütenden Schritt auf den Kommandanten zu und blieb erst stehen, als die Soldaten vor ihm drohend nach ihren Waffen griffen.
»Ich verstehe nicht, was für ein Spiel Ihr spielt«, sagte er mit mühsam beherrschter Stimme. »Und ich will es auch gar nicht verstehen. Aber diese angeblichen Anfänger aus Kohon waren nicht das, was zu sein sie vorgaben. Holt sie her, wenn Ihr es wirklich nicht wißt. Bringt sie her, und ich werde Euch zeigen, was sie wirklich sind.«
»Laß es, Del«, murmelte Skar. Aber der junge Satai schien seine Worte gar nicht zu hören.
Der Kommandant seufzte. »Ich dachte mir, daß Ihr etwas in dieser Art verlangen würdet«, sagte er kopfschüttelnd. »Schade. Ich habe gehofft, auf diese unwürdige Komödie verzichten zu können. Aber wie Ihr wollt.« Er trat einen halben Schritt zurück, klatschte in die Hände und wandte sich halb um. In der Seitenwand der Halle wurde eine schmale Schlupftür geöffnet, und eine Abteilung Soldaten führte die beiden Kohoner und ihren Lastaren in die Halle. Erneut fiel Skar auf, wie sehr sich die beiden Männer ähnelten; und nicht nur sie - auch ihr Lastar unterschied sich nur geringfügig von seinen beiden Kämpfern. Die gleiche Größe und Statur, dasselbe schmale, scharfgeschnittene Gesicht, die gleichen Hände, eher sehnig und geschickt als stark ... aber es waren menschliche Gesichter, menschliche Hände. Skar hörte, wie Del neben ihm scharf die Luft einsog, und legte ihm beruhigend die Hand auf den Arm. »Nicht«, flüsterte er. »Reiß dich zusammen.«
Del knurrte irgend etwas, das er nicht verstand, streifte seine Hand ab und trat mit einem raschen Schritt auf die drei Männer zu. »Ich weiß nicht, wie Ihr es gemacht habt«, sagte er wütend, »aber ich beglückwünsche Euch dazu. Das ist die beste Maske, die ich je gesehen habe.«
Skar sah rasch zum Kommandanten hinüber. Auf dem Gesicht des kleinwüchsigen Mannes war ein fragender Ausdruck erschienen, aber er zog es vor zu schweigen und den Dingen ihren Lauf zu lassen.
»Trotzdem nutzt es Euch nichts«, fuhr Del etwas lauter und mit einem triumphierenden Seitenblick auf den Stadtkommandanten fort. »Nehmt Ihr die Masken selbst ab, oder muß ich es tun?« Er trat vor und streckte die Hand aus, als wolle er dem Mann vor sich an den Haaren reißen. Der Kohoner drehte rasch den Kopf zur Seite und wich zurück.
»Seid Ihr verrückt, oder könnt Ihr nicht verlieren?« fragte er. Es war das erste Mal, daß Skar ihn oder seinen Kameraden überhaupt reden hörte. Seine Stimme paßte nicht zu ihm, fand er.
»Ich werde dir zeigen, wie verrückt ich bin!« schrie Del. Bevor es einer der umstehenden Soldaten verhindern konnte, stürzte er sich auf den Kohoner, rang ihn zu Boden und krallte die Finger in sein Gesicht. Der Mann schrie vor Schmerz und Überraschung auf, strampelte mit den Beinen und versuchte, Dels Hand zur Seite zu schlagen. Genausogut hätte er versuchen können, die Arena mit bloßen Händen niederzureißen. Del preßte ihn mit spielerischer Leichtigkeit zu Boden, drückte mit der Linken seine Handgelenke zusammen und riß und zerrte mit aller Gewalt an seiner Wange. Die Haut riß. Blut lief in dünnen roten Rinnsalen über sein Gesicht und Dels Finger, und seine Schreie wurden plötzlich schriller. »Del! Hör auf!« Skar fegte zwei Soldaten, die vergeblich versuchten, Del von seinem Opfer herunterzuzerren, mit einer wütenden Bewegung zur Seite, riß den jungen Satai herum und schlug ihm drei-, viermal hintereinander mit der flachen Hand ins Gesicht. Dels Griff erschlaffte. Fassungslos starrte er auf das blutende Gesicht des Kohoners hinunter, erhob sich langsam auf die Füße und warf Skar einen ratlosen Blick zu. Der Kohoner kroch rasch rückwärts davon, stemmte sich auf Händen und Knien hoch und preßte dann die Hand gegen die Wange. Zwischen seinen Fingern sickerte Blut hervor.
»Aber ...«, keuchte Del, »was ... das ist...«