Gowennas Augen blitzten wütend auf. »Ich weiß, was du sagen willst«, zischte sie. »Spar es dir. Wir brauchen die Salbe nicht mehr, wenn wir den Stein finden. Er selbst wird uns schützen.«
»Du setzt großes Vertrauen in ein Ding, von dem du nicht einmal weißt, ob es existiert«, gab Skar ruhig zurück. »Und wo.«
»Ich weiß es«, behauptete Gowenna wütend, ohne sich um den offenkundigen Widerspruch in ihren Worten zu scheren. »Er muß hier sein, oder ...«
»Oder?«
»Nichts«, sagte sie. »Er ist hier. Und wir werden ihn finden.«
»Oder wir kommen alle nicht mehr hier heraus«, vollendete Skar den Satz. »Das war es doch, was du sagen wolltest? Du wußtest von Anfang an, daß uns Tantors Zauber nur auf dem Weg hierher schützt. Du wußtest es die ganze Zeit. Wir werden entweder mit dem Stein zurückkehren, oder gar nicht.«
Gowenna blieb stehen. An ihrem Hals begann ein Nerv zu zucken. »Selbst wenn du recht hättest«, sagte sie mühsam, »was würde es ändern?«
»Nichts«, erwiderte Skar ruhig. »Ich weiß nur gerne, warum ich sterbe, das ist alles.« Seine Worte entsprangen der Wahrheit. Die Vorstellung, zu sterben, hatte nichts Erschreckendes mehr für ihn, im Gegenteil. Er hatte in den letzten Stunden einfach zuviel durchgemacht, um noch vor irgend etwas Angst zu haben.
Sie gingen weiter. Der Gang mündete in eine große, vollkommen leere Halle, von der aus weitere Türen in verschiedene Richtungen führten. Skar begann sich zu fragen, wie Gowenna ihren Weg fand. Er selbst hätte sich schon auf den ersten Metern hoffnungslos verirrt, und es gab an den glatten, schmucklosen schwarzen Wänden nichts, was als Wegzeichen hätte dienen können. Trotzdem bewegte sich Gowenna so sicher, als wäre sie in dieser Umgebung zu Hause.
Es folgte ein weiterer Gang; Treppen, die in neue Säle und Kammern mündeten und wieder Gänge - ein monotones Labyrinth voller Dunkelheit und Kälte. Skar begann mit jedem Schritt intensiver zu spüren, wie tot dieses gewaltige Gebäude war, eine Ruine trotz seiner äußerlichen Unversehrtheit, nichts als ein gewaltiges Grab, in dem die Träume eines ganzen Volkes beigesetzt worden waren. Sie hatten ein gewaltiges Ziel verfolgt, die Herren Combats, aber alles, was geblieben war, war Odnis und Leere, ein ungeheures Monument gescheiterter Macht, so gewaltig, daß es sich in seiner Größe ad absurdum führte. Sie hatten nach Vollkommenheit gestrebt, Macht nicht nur über diese Welt, sondern vielleicht über die ganze Schöpfung zu gewinnen, und die Strafe, die sie getroffen hatte, entsprach der Größe ihres Vorhabens. Mit einem Mal war Skar sicher, daß es nicht der Magie ihrer Erbauer zu verdanken war, daß Combat dem Feuer der Götter all die Zeit widerstanden hatte, sondern daß es Absicht war, ein Sterben, das nicht in Augenblicken, sondern in Jahrtausenden ablief, eine stumme, flammende Mahnung an alle, die gleich diesem Volk die Macht der Schöpfung herausfordern wollten.
»Wir sind da.« Gowennas Stimme schien in dem niedrigen Gang ein seltsames, verzerrtes Echo hervorzurufen, ein Echo, als klängen im Hintergrund dünne, böse Kinderstimmen.
Der Gang endete in einem runden, hohen Raum. Die Wände waren vom gleichen matten Schwarz wie der Rest des Gebäudes, aber sie waren hier nicht mehr kahl, sondern mit verschlungenen, scheinbar sinnlosen Mustern und Zeichen übersät. Das Licht war anders hier, auch grau und flackernd, aber von raschen, dünnen Blitzen orangeroter und weißer Helligkeit durchzogen, als brenne irgendwo über ihren Köpfen ein Feuer. Aus dem Zentrum der Halle wuchs eine gewaltige runde Säule aus poliertem schwarzem Stein. Gowenna deutete mit einer Kopfbewegung darauf. »Die Treppe.« Skar blieb stehen, sah sich rasch nach beiden Seiten um und legte den Kopf in den Nacken. Die Decke verlor sich in grauem Dunst, durch den ab und zu greller Feuerschein blitzte.
»Was ist dort oben?« fragte er.
Gowenna zögerte merklich mit der Antwort. »Ich ... weiß es nicht.« gestand sie. »Ich bin niemals weiter als bis hierher gekommen. Aber der Altarraum muß dort sein. Es ist der einzige logische Ort.«
»Logisch?« Skar lachte ungläubig. »Was ist an dieser Stadt schon logisch, Gowenna?« Er schüttelte den Kopf, ging weiter und umrundete die Säule; langsam, angespannt, mit der Rechten auf dem Schwertgriff, jederzeit auf einen Angriff gefaßt. Dieser Raum war nicht so leer, wie er schien, das spürte er. Irgend etwas war hier oder vielmehr dort drinnen, im Inneren der Säule, etwas, das auf sie wartete, ein geduldiges, stummes Ding, lauernd und böse.
»Du hast recht«, murmelte er. »Er ist hier.«
Gowenna zuckte zusammen. Für einen Moment spiegelte ihr Gesicht Schrecken, Schrecken und noch etwas anderes wider, das er unter der Maske aus Blut und Ruß auf ihren Zügen nicht genau erkennen konnte. Haß?
Der Eingang befand sich auf der anderen Seite der Säule, ein niedriger, runder Spalt, kaum breit genug für einen erwachsenen Menschen.
»Wo sind die anderen?« fragte er.
»Dort drinnen.« Gowenna trat zögernd an ihm vorbei, legte die Hand auf den schwarzen Stein der Säule und verharrte einen Moment. Skar sah, daß ihre Finger zitterten. Ihre Augen waren angstvoll geweitet, als sähe sie in den wogenden Schatten dort drinnen etwas unbeschreiblich Schreckliches.
»Gehen wir.« Diesmal war ihre Stimme verzerrt, und es waren nicht die Echos, die sie von Angst durchwoben erscheinen ließen. Aber Skar verzichtete auf die Frage, die ihm auf der Zunge lag. Hinter Gowenna betrat er den Treppenschacht. Gerrion, Arsan und die beiden anderen Sumpfmänner hockten auf den untersten Stufen der breiten, ausgetretenen Treppe und unterhielten sich leise. Sie wirkten frischer und kräftiger, als er erwartet hatte. Auch ihre Kleider und Gesichter waren versengt und geschwärzt von Ruß und Asche, aber sie schienen ohne ernsthaftere Verletzungen davongekommen zu sein.
Gowennas Verhalten änderte sich schlagartig, als sie den anderen gegenübertrat. Innerhalb von wenigen Sekunden verschwand auch das letzte Anzeichen von Schwäche oder Furcht, und sie war wieder die kühle, selbstbewußte Führerin, als die Skar sie kannte.
»Habt ihr irgend etwas bemerkt?«
Arsan hob den Kopf, starrte sie eine Sekunde schweigend an und machte eine verneinende Geste. »Nichts. Was geschieht jetzt?«
»Was schon?« erwiderte Gowenna achselzuckend. »Wir gehen hinauf. Dazu sind wir schließlich hier.«
Arsan blickte besorgt zum Ausgang. »Jemand sollte hierbleiben«, sagte er. »Als Wache.«
»Wozu?« sagte Gowenna. »Hast du Angst, jemand könnte die Tür zumauern, während du oben bist?« Sie lachte spöttisch, zog das Schwert aus dem Gürtel und schlug ein paarmal mit der flachen Klinge in ihre geöffnete Linke, eine Geste, die Stärke und Gelassenheit demonstrieren sollte, aber in dieser unwirklichen Umgebung deplaziert und falsch wirkte.
»Wir gehen alle gemeinsam«, fügte sie hinzu. »Ich -«
Ein dunkelroter, flackernder Blitz erhellte den Treppenschacht über ihren Köpfen und erlosch wieder. Gowenna brach erschrocken ab. Das Feuer spiegelte sich in ihren Augen und schien selbst dann noch nachzuglühen, als der Lichtschein über ihnen schon längst erloschen war.
»Was war das?« fragte Gerrion leise.
»Ich weiß es nicht«, murmelte Gowenna. »Sehen wir nach.« Sie schob Arsan mit einer ungeduldigen Bewegung zur Seite, setzte den Fuß auf die unterste Stufe und lief nach einem letzten, kaum merklichen Zögern los. Die drei Sumpfmänner folgten ihr, ebenso Arsan, Gerrion und als letzter Skar.
Die Treppe führte in endlosen Windungen in die Höhe. Skar gab es bald auf, die Stufen zu zählen, und konzentrierte sich darauf, weiterzugehen und nicht den Anschluß zu verlieren. Gowennas Tempo erschien ihm zu scharf. Sie liefen zu schnell und verbrauchten zuviel Kraft, bedachte man die Höhe des Treppenturmes, und seine Muskeln begannen schon nach wenigen Augenblicken zu schmerzen. Aber er protestierte nicht. Er spürte, daß es besser war, so rasch wie möglich aus dem Schacht herauszukommen, sich nicht länger als unbedingt notwendig im Inneren dieser gigantischen schwarzen Säule aufzuhalten. Er konnte Gowennas Furcht verstehen, mit jeder Sekunde, die er weiter emporkam, mehr. Es gab keine körperliche Bedrohung hier, keinen Feind, der hinter der nächsten Biegung auf sie lauerte. Der Schacht selbst war die Bedrohung. Die schwarzen Wände schienen Angst auszuatmen, Furcht, die sich wie ein dünner Nebel über ihre Körper legte, unaufhaltsam und schleichend in ihre Gedanken kroch und an ihren Kräften zehrte. Sein Herz begann zu hämmern, und plötzlich verspürte er eine irrsinnige Angst davor, sich umzudrehen. Irgend etwas schien hinter ihm zu sein, etwas Gewaltiges und Böses, und er kam sich mit einem Mal vor wie ein kleines Kind, das, gepackt von Grauen, lief, immer nur lief, das wußte, daß irgend etwas hinter ihm war, ihn verfolgte, immer ein wenig schneller lief als er selbst, etwas, das ihn im gleichen Augenblick packen würde, in dem er sich umsah.