»Moment.« Skar wollte nach ihrer Schulter greifen, aber Gowenna entwand sich ihm mit einer raschen Bewegung.
»Ich erkläre dir alles«, sagte sie bestimmt. »Doch nicht jetzt. Ich verstehe deine Besorgnis, aber glaube mir, du hast eher etwas gewonnen als verloren.«
Skar starrte sie wütend an, verzichtete jedoch auf die scharfen Worte, die ihm auf der Zunge lagen. »Muster«, knurrte er.
Gowenna deutete auf die Rückwand der Kammer. Auch dort befand sich, wie auf der gegenüberliegenden Seite, ein runder, vielleicht anderthalb Meter breiter Durchgang. Dahinter schimmerte Licht; der schwache, gelbliche Glanz von Kerzen, der erst bei genauem Hinsehen zu erkennen war.
»Wir können nicht mehr weit von unserem Ziel entfernt sein«, sagte sie. »Kommt jetzt.«
Arsan und Gerrion setzten sich gehorsam in Bewegung, aber die beiden El-tras blieben, anders als sonst, reglos stehen, als hätten sie Gowennas Worte überhaupt nicht vernommen.
»Sie bleiben zurück«, erklärte Gowenna auf Skars fragenden Blick. »Sie sind noch zu geschwächt, um uns zu begleiten.« Skar folgte ihr ohne ein weiteres Wort. Er hatte immer den Wunsch verspürt, mehr über Sumpfmänner zu wissen, aber er war sich plötzlich gar nicht mehr so sicher, ob er nicht schon zuviel erfahren hatte. Es gab Geheimnisse, die an Schrecken gewannen, wenn man sie lüftete.
Hinter dem Durchgang wartete ein weiterer, finsterer Stollen auf sie. Der schwache Glanz an seinem Ende gewann aber allmählich an Leuchtkraft.
»Dort vorne ist es«, sagte Gowenna. Ihre Stimme zitterte hörbar. Skar bemühte sich, Einzelheiten zu erkennen, aber er sah nichts außer formlosen Umrissen und gelbem, flackerndem Licht. Gowenna schien wesentlich schärfere Augen zu haben als er.
Sie gingen schneller. Der Gang endete vor einer kurzen, nur aus drei Stufen bestehenden Treppe, an deren oberen Ende eine weitere runde Tür lag. Gowenna zögerte einen Moment, atmete hörbar ein und trat mit einem entschlossenen Schritt hindurch. Skar wartete, bis auch Arsan und Gerrion unter dem Türbogen verschwanden. Er drehte sich noch einmal um, starrte in die schattenerfüllte Schwärze hinter sich und zog mit einer bedächtigen Bewegung das Schwert aus der Scheide, ehe er ebenfalls die Treppe hinaufging. Nicht, daß er damit rechnete, ernsthaft kämpfen zu müssen; die Waffe diente nur dem Zweck, ihn selbst zu beruhigen, ihm ein - wenn auch trügerisches - Gefühl der Stärke zu geben. Er war nervös, als er in den Altarraum trat, nervöser, als er selbst zuzugeben bereit war.
Im ersten Moment war er beinahe enttäuscht. Er wußte nicht, was er erwartet hatte, aber es war auf jeden Fall irgend etwas Großartiges, Gewaltiges gewesen.
Als erstes fiel ihm auf, wie klein der Raum war, nicht mehr als zwölf, fünfzehn Schritte im Quadrat, die Decke kaum drei Meter hoch, so daß er sie mit der Schwertspitze hätte berühren können, wenn er den Arm ausgestreckt hätte. Es gab keine Fenster oder andere Öffnungen als die, durch die sie gekommen waren. An den Wänden brannten Fackeln mit ruhiger, rußloser Flamme. Und vor ihnen, kaum eine Armlänge von Gowenna entfernt, stand der Altar. Skar ließ verblüfft die Waffe sinken, trat mit einem raschen Schritt neben Gowenna und blieb stehen, als sie hastig die Hand hob. Nach all der Größe und Gewaltigkeit, die sie auf ihrem Weg hier herauf gesehen hatten, wirkte der Altar bescheiden, nicht wie ein Monument der Macht wie die Stadt, die ihn umgab, sondern wie ein funkelndes Juwel, verborgen und in sich gekehrt ähnlich einer Orchidee, die inmitten eines Unkrautfeldes blüht. Er bestand aus einem schwarzen, kaum fußhohen Sockel, aus dessen Zentrum zwei übergroße, aus glitzerndem Kristall geschnitzte Arme emporwuchsen. Ihre Hände, die sich an den Ballen berührten, als müßten sie sich gegenseitig stützen, trugen eine flache, vielleicht einen Meter durchmessende Schale, die bis dicht unter den Rand mit Wasser gefüllt war. Dahinter hockte ein mächtiger, aus schwarzem Stein gemeißelter Wolf.
Skar starrte die Skulptur an. Er hatte nie zuvor eine so genau und liebevoll ausgeführte Arbeit gesehen. Das Tier war perfekt nachgebildet, bis hinab zum winzigsten Härchen, zur kleinsten Unregelmäßigkeit auf seinen hochgezogenen Lefzen und zu den fingerlangen entblößten Reißzähnen. Es kostete ihn Mühe, den Blick wieder der Schale zuzuwenden.
Der Stein lag auf dem Boden der Schale, bedeckt von einer kaum zwanzig Zentimeter hohen Schicht glasklaren, unbewegten Wassers. Er war klein, viel kleiner, als Skar erwartet hatte, aber von unbeschreiblicher Schönheit, ein winziger weißer Ball aus gefrorenem Licht, der in sanftem, blauem Feuer erstrahlte. Seine Oberfläche war zu Millionen unendlich feiner Facetten geschliffen; eine perfekte Kopie der Kuppel, die den Tempel überdachte.
Gowenna trat zögernd vor, streckte die Hand aus und berührte die Wasseroberfläche. Ihre Finger tauchten in die Flüssigkeit ein und verursachten eine Folge winziger runder Wellen, die das Licht brachen. Es sah aus, als zerspränge der Stein am Grunde des Beckens zu unzähligen Bruchstücken.
Skar ergriff rasch ihr Handgelenk, riß sie herum und vertrat ihr den Weg. Gowenna wehrte sich und versuchte, ihre Hand zu befreien, aber diesmal war er auf ihre Stärke vorbereitet.
»Auf ein Wort noch, Gowenna«, sagte er ruhig.
Gowennas Gesicht verzerrte sich vor Anstrengung. Sie wehrte sich mit aller Kraft, aber Skar drückte erbarmungslos zu, preßte ihr Gelenk so fest zusammen, daß sie sich vor Schmerz krümmte und jeden Widerstand aufgab.
»Was... willst du?« keuchte sie.
»Antworten«, sagte Skar. »Ich will wissen, warum wir hier sind. Welche Macht hat dieser Stein? Warum ist er so wichtig für deine Herrin ?«
»Wer ihn hat, beherrscht Combat«, stieß Gowenna hervor.
»Er -«
Skar verstärkte den Druck seiner Hand noch mehr, so daß sie aufstöhnte und sich unter seinem Griff wand.
»Das ist nicht die Antwort, die ich will«, sagte er. »Drei Menschen sind gestorben, und noch mehr werden wahrscheinlich sterben, bis wir hier wieder heraus sind. Welches Geheimnis umgibt dieses Stück Glas? Was ist wichtiger als die Leben von drei Menschen?«
»Ich ... weiß es nicht«, keuchte Gowenna. »Dieser Stein ist der Schlüssel zur Macht der Alten, aber nur wer sein Geheimnis kennt, kann ihn benutzen. Ich weiß nicht, welche Macht er seinem Besitzer verleiht, und ich weiß auch nicht, wie man sie anwendet. Nur Vela allein weiß es.«
»Und sie hat es dir nicht gesagt?« fragte Skar zweifelnd.
Gowenna schüttelte den Kopf. »Nein. Sie gab mir alles, was nötig war, hierher und wieder zurückzukommen, aber nicht mehr. Und nun laß meine Hand los. Du tust mir weh.«
Skar ließ ihr Handgelenk fahren, drehte sich nach der Schale um und wollte nach dem Stein greifen, aber Gerrion war um eine Winzigkeit schneller. Er beugte sich vor, tauchte beide Arme bis über die Ellbogen ins Wasser und nahm den Stein heraus. Reglos, die Hände zu einer Schale geformt, blieb er über dem Becken stehen und wartete, bis das Wasser zwischen seinen Fingern hindurchgetropft war.
»Gib ihn her!« zischte Gowenna. Sie trat an Skar vorbei und streckte herrisch die Hand aus, aber Gerrion wich mit einem erschrockenen Schritt zurück, schloß die Linke um den Stein zur Faust und zog mit der anderen Hand sein Schwert.
»Nein!« keuchte er. »Du bekommst ihn nicht!«
Gowenna verhielt mitten im Schritt. Ihre Haltung wirkte mit einem Mal sonderbar steif und unnatürlich, und auf ihrem Gesicht machte sich ein Ausdruck ungläubigen Staunens breit.
»Was soll das heißen?« fragte sie lauernd.
»Ich ... gebe ihn nicht her«, flüsterte Gerrion. Seine Stimme bebte. Seine Augen waren unnatürlich geweitet, und das Schwert in seiner Faust zitterte sichtlich. »Du bekommst ihn nicht! Keiner von euch bekommt ihn!« Er hob drohend das Schwert und fuchtelte wild damit in der Luft herum. »Keiner bekommt ihn!« wiederholte er. »Keiner!«