Gowennas Hand zuckte zum Gürtel, aber Skar hielt sie mit einer raschen Bewegung zurück.
»Du bist schlecht beraten, wenn du glaubst, den Stein mit Gewalt an dich bringen zu können«, sagte Skar ruhig zu Gerrion. »Wir sind drei, und du bist nur einer.«
»Zwei«, verbesserte Gerrion. »Arsan zählt nicht. Und ihr seid nichts als eine größenwahnsinnige Frau und ein halbtoter Satai.«
»Sei vernünftig, Gerrion«, sagte Skar. »Ich verstehe dich. Was du da in der Hand hast, bedeutet vielleicht mehr Macht, als jemals ein einzelner Mensch besessen hat, aber dir wird es den Tod bringen. Laß das Schwert fallen und gib mir den Stein, und wir vergessen, was geschehen ist. Ich gebe dir mein Wort.«
»Dein Wort!« lachte Gerrion. »Was ist das schon wert? Ich -« Er brach ab. Sein Gesicht erstarrte, wurde zu einer verzerrten Grimasse. Das Schwert entglitt seiner Hand und fiel klappernd zu Boden.
Skar machte einen Schritt auf ihn zu und blieb entsetzt stehen, als er sah, was geschah. Zwischen den Fingern von Gerrions linker Hand träufelte nicht länger Wasser, sondern blaues, brennendes Licht hervor. Gerrion wankte zurück, schrie und bewegte den Arm, als wolle er den Stein fortwerfen. Er konnte es nicht mehr. Seine Faust ließ sich nicht mehr öffnen, zusammengebacken von der unbarmherzigen Glut, die der Stein ausstrahlte. Das Licht wurde heller, gleißender, ließ seine Hand durchscheinend wie Glas werden. Die Knochen darin, dünne, schwarze Linien, splitterten unter der unglaublichen Hitze. Gerrions Arm flammte auf. Weißes Feuer lief über seine Schulter, hüllte seinen Kopf ein und verwandelte ihn in eine brüllende, tanzende Fackel.
Skar hob schützend die Hand vors Gesicht und wich zwei, drei Schritte zurück. Gerrion stürzte zu Boden, wälzte sich schreiend herum und schlug mit der Rechten auf seinen Körper ein, um die Flammen zu ersticken. Er war jetzt vollkommen von Feuer eingehüllt, ein wabernder, weißglühender Mantel, dessen Gluthauch Skar und die anderen Schritt für Schritt zurückweichen ließ. Aber er lebte noch immer. Und er schrie, hoch, ausdauernd und mit Tönen, wie Skar sie noch nie aus einer menschlichen Kehle vernommen hatte. Sein linker Arm ragte verkrümmt und schwarz aus dem Flammenmeer empor, aber er lebte.
»Skar!« schrie Arsan. »Töte ihn!«
Skars Hand fuhr zum Gürtel. Er wechselte das Schwert von der Rechten in die Linke, zog einen der kleinen Shuriken hervor und schleuderte ihn mit aller Macht. Der fünfzackige Metallstern verwandelte sich in ein wirbelndes Rad, zischte auf das brennende Bündel am anderen Ende der Kammer und bohrte sich mit dumpfem Geräusch in Gerrions Stirn. Gerrion bäumte sich ein letztes Mal auf, fiel zurück und blieb reglos liegen. Seine verbrannte Hand öffnete sich. Der Stein rollte heraus, kollerte über den Boden und kam zwei, drei Schritte neben der Leiche zum Stillstand. Der blaue Glanz war erloschen, als hätte er seine gesamte Energie in diesem einen, kurzen Augenblick verbraucht.
»Ihr Götter!« keuchte Arsan. »Was ... was war das?«
Weder Skar noch Gowenna antworteten. Das leise Knistern der Flammen, mit denen Gerrions verstümmelter Körper verbrannte, war für lange Zeit der einzige Laut in der Kammer.
Schließlich, nach Minuten, die ihm wie Ewigkeiten vorgekommen waren, löste sich Skar aus seiner Erstarrung und ging zögernd auf den Stein zu. Er ließ sich auf ein Knie herabsinken, berührte den Kristall mit der Schwertspitze und rollte ihn vor sich über den Boden.
Nichts geschah. Er wartete, legte das Schwert behutsam neben sich nieder und streckte die Hand aus. Seine Finger zitterten. Vorsichtig berührte er den Stein, zog die Hand sofort wieder zurück und sah auf. Sein Blick begegnete dem Gowennas. Ihr Gesicht wirkte grau und eingefallen, selbst unter der starren Maske aus Blut und Schmutz, die es bedeckte, und in ihren Augen spiegelte sich die ganze Palette menschlicher Gefühle - Furcht, Haß, Verzweiflung, aber auch Hoffnung und bange Erwartung.
Skar nahm all seinen Mut zusammen, ergriff den Stein mit den Fingerspitzen und ließ ihn auf seine Handfläche rollen, jederzeit bereit, ihn fortzuschleudern, sobald er auch nur die geringste Veränderung spürte.
Der Stein war nicht einmal warm. Seine geschliffene Oberfläche fühlte sich kühl und rein an, und Skar spürte, wie die Schmerzen in seiner Hand nach und nach erloschen, als ginge ein geheimnisvoller heilender Zauber von dem kleinen Stein aus.
Skar blieb zwei, drei, fünf endlose Minuten reglos hocken und wartete, daß irgend etwas geschah. Aber der Stein erwachte nicht noch einmal zum Leben. Gerrion war sein erstes und einziges Opfer gewesen, Opfer vielleicht einer letzten Sicherung, die die Herren Combats dem Stein mitgegeben hatten, um sich selbst zu schützen. Er stand auf, schloß die Faust um den Stein und schob sein Schwert in die Scheide zurück.
»Gehen wir«, sagte er.
Gowenna reagierte nicht. Ihre Züge waren erstarrt, aber es war jetzt nicht mehr Furcht, die Skar in ihnen las. Es war Haß. Haß von einer Tiefe, die ihn erschauern ließ. Haß auf ihn, auf das, was er vor ihren Augen getan hatte. Skar mußte auf einmal wieder an Arsans Worte denken: Sie ist nicht hier, um zu siegen, Skar. Sie will deine Niederlage sehen. Und er begriff erst jetzt, wie recht der Kohoner mit seiner Behauptung gehabt hatte. Sie war vor ihm hier gewesen und war gescheitert, und jetzt war er gekommen, ein Mann, der all das symbolisierte, was sie verachtete und bekämpfte, und er hatte getan, wozu sie nicht fähig gewesen war.
Es kostete ihn Mühe, seinen Blick von dem Gowennas zu lösen. Er preßte die Faust mit dem Stein an sich, ging rasch an ihr vorbei und trat mit gesenktem Kopf durch den Ausgang.
Schweigend gingen sie durch den kurzen Stollen bis in den Vorraum, in dem El-tra auf sie warteten. Die beiden Sumpfmänner hockten nebeneinander auf dem Boden, und ihre Gesichter kamen Skar grauer als sonst vor, obgleich sie unter den tief in die Stirn gezogenen Kapuzen fast unsichtbar waren. Gowenna sagte ein paar Worte in ihrer schnellen, dumpfen Sprache zu ihnen, und eine der beiden Gestalten erhob sich und trat hinaus auf die Treppe. »Wo hast du ihn hingeschickt?« fragte Skar.
»Er sieht nach, ob der Weg sicher ist«, antwortete Gowenna. »Normalerweise geben sie sich mit einem Opfer zufrieden, aber ich will sichergehen.«
Es dauerte eine Zeit, bis Skar den Sinn ihrer Worte begriff. »Du ... du willst damit sagen, daß du gewußt hast, daß einer von uns auf dem Weg hier herauf sterben wird?« fragte er stockend. Gowenna drehte sich halb herum und sah ihn an, sagte aber nichts.
»Aber es sollte nicht El-tra sein, nicht?« fuhr Skar fort. »Du hast uns nur mitgenommen, um ...«
»Nicht euch, Satai«, unterbrach ihn Gowenna ruhig. »Dich brauche ich für den Rückweg.«
»Dann eben Beral, Gerrion oder Nol oder Arsan«, sagte Skar mit mühsam beherrschter Stimme. »Daß El-tra das Opfer war, war nicht beabsichtigt, wie? Das war ein dummer Unfall!«
Er hatte erwartet, daß Gowenna betroffen oder wenigstens verunsichert reagieren würde, aber ihr Gesicht blieb unbewegt wie immer. »Natürlich«, antwortete sie ruhig. »Ihr alle habt doch gewußt, wie gefährlich es ist? Oder hast du dir wirklich eingebildet, daß wir alle lebend zurückkommen?«
Skars Hand krampfte sich um den Schwertgriff, und für einen winzigen Moment kämpfte er ernsthaft gegen den Impuls, die Waffe zu ziehen und sich auf Gowenna zu stürzen. Es waren nicht Gowennas Worte, die ihn so wütend machten, sondern die Art, in der sie sie aussprach, die seelenlose Kälte, mit der sie mit dem Leben von Menschen umsprang.
»Natürlich nicht«, antwortete er leise. Er konnte nur leise reden - oder schreien. »Aber es ist ein Unterschied, im Kampf zu sterben oder geopfert zu werden.«
»Ach?« sagte Gowenna. »Erklär ihn mir.«
Skar ballte wütend die Fäuste. Er fuhr herum und sah zu Arsan hinüber, aber der Kohoner lehnte mit eingefallenem Gesicht und erloschenem Blick an der Wand und schien gar nicht mehr zu registrieren, was um ihn herum vorging.