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»Was wirst du eigentlich noch alles tun wegen dieses verdammten Steines?« fragte er.

»Alles«, antwortete Gowenna. »Alles, was ich tun muß und kann. Er ist wertvoller, als du dir auch nur vorstellen kannst.«

»Aber er rechtfertigt nicht -«

»Sein Besitz rechtfertigt alles«, unterbrach ihn Gowenna. »Was ist ein Menschenleben gegen das von Millionen? Was zählt das Schicksal eines einzelnen gegen das einer ganzen Welt?«

Skar fuhr abermals herum. Gowenna hielt seinem Blick gelassen stand, und was er in ihren Augen las, ließ ihn noch mehr erschrecken. Sie glaubte an das, was sie sagte.

»Wir haben schon mehrmals darüber geredet, aber du hast es bisher nicht begriffen, und du wirst es auch in Zukunft nicht begreifen, Satai«, fuhr Gowenna fort. »Es gibt Dinge, die wichtiger sind als Menschenleben, auch wenn das vielleicht deiner albernen Religion widerspricht.«

»Es widerspricht ihr nicht, im Gegenteil. Aber ich ziehe es vor, die Entscheidung darüber denen zu überlassen, deren Leben betroffen ist.«

Gowenna zuckte gleichmütig die Achseln. »Das ist dein Standpunkt, Skar. Ich frage mich nur, warum du hier bist, wenn du wirklich so denkst.«

»Das weißt du genau.«

Gowenna lächelte, aber die starre Maske aus Schmutz und Blut auf ihrem Gesicht ließ eine Grimasse daraus werden. »Ich weiß, warum du nicht hier bist, Skar«, antwortete sie. »Nämlich nicht, weil du dazu gezwungen wurdest. Du wärest der erste Satai, der sich zu etwas zwingen oder gar erpressen ließe. Ich weiß nur noch nicht, warum du uns wirklich begleitest. Aber das spielt auch keine Rolle. Du bist da, und das genügt.«

»Bisher hättet ihr recht gut auf mich verzichten können«, grollte Skar. Es klang albern, war aber die einzige Antwort, die ihm einfiel. Wieder nickte Gowenna. »Das ist richtig. Aber du wirst dir deinen Lohn noch verdienen, sei beruhigt. Wir brauchen weniger dich als vielmehr deinen Schwertarm.«

»Warst du nicht bisher der Meinung, der deine wäre ebenso stark?«

»Vielleicht ist er das auch. Aber eine Frau gehört nicht aufs Schlachtfeld. Erinnerst du dich? Das waren deine Worte. Außerdem - es mag sein, daß ein Schwert nicht genug ist.«

»Oder daß du in eine Situation kommst, in der du den besagten Schwertarm opfern mußt«, versetzte Skar boshaft. Aber sein Spott drang gar nicht erst bis zu ihr durch.

Gowenna zuckte gleichmütig die Achseln, verschränkte die Arme vor der Brust und ließ sich neben dem reglos dahockenden Sumpf - mann zu Boden sinken.

»Auch das«, gestand sie. »Obwohl ich ganz zuversichtlich bin, daß du überleben wirst, Skar. Ihr Satai seid doch unbesiegbar, oder?«

»Findet ihr es sinnvoll, euch ausgerechnet jetzt zu streiten?« mischte sich Arsan ein.

Skar sah verärgert auf. Der Kohoner hatte sich ebenfalls gesetzt und den Kopf in die Hände gestützt. Seine Stimme schwankte vor Schmerzen und Erschöpfung, aber sein Blick war wieder klar. »Wir haben andere Probleme. Schlagt euch von mir aus die Köpfe ein, aber wartet damit, bis wir hier heraus sind. Sonst schaffen wir es nämlich nie.«

»Keine Sorge, Arsan«, murmelte Gowenna. »Wir sind hereingekommen, und wir kommen auch wieder heraus. Was nicht heißt«, fügte sie nach einer winzigen Pause hinzu, »daß wir dann in Sicherheit sind.« Sie stockte erneut, lehnte sich zurück und lehnte den Hinterkopf gegen die Wand. Ihre Finger fuhren in einer unbewußten Bewegung über ihre Wange. Als sie die Hand zurückzog, klebte Blut an ihren Fingerspitzen. »Weißt du«, fuhr sie fort, diesmal an Skar gewandt, »daß wir verfolgt werden?«

»Du meinst den Drachen?«

»Nein. Dieses Problem werden wir auf... andere Weise lösen müssen. Ich meine die Männer, die uns folgen.«

Für einen Moment war Skar überrascht. »Du ... hast die Spuren gesehen?«

Gowenna nickte. »Ich bin nicht blind, Satai. Sie sind schon hinter uns her, seit wir das Schiff verlassen haben, vielleicht sogar schon seit Ikne. Ich dachte, du wüßtest es.«

»Ich habe es auch bemerkt«, murmelte Arsan. Er hob den Kopf, und für einen Moment schien so etwas wie Interesse in seinem Blick aufzuglühen. »Aber ich habe es erst in den Bergen gemerkt.«

»Sie sind leichtsinniger geworden«, bestätigte Gowenna. »Wahrscheinlich werden sie uns irgendwann auf dem Rückweg angreifen.«

»Wer sind sie?« fragte Skar mißtrauisch.

»Die, die uns verfolgen, Satai. Räuber vielleicht. Oder Quorrl. Ich weiß es nicht. Vielleicht auch Männer aus Ikne. Vergiß nicht, daß auf deinen Kopf ein ansehnlicher Preis ausgesetzt ist. Es gibt genug Abenteurer, die einen Mann für hundert Goldstücke selbst bis in die Hölle verfolgen.« Sie lächelte. »Aber du brauchst keine Angst zu haben. El-tra und ich werden dich beschützen. Oder vielmehr den Stein, den du trägst.«

Skar schwieg dazu. Gowennas Vermutung klang einleuchtend, und trotzdem weigerte er sich, daran zu glauben. Wer immer sie verfolgte - es steckte etwas anderes dahinter.

Für einen kurzen Moment dachte er wieder an die Errish, aber auch jetzt gelang es ihm nicht, sich über seine Gefühle klarzuwerden. Es war alles viel zu kompliziert. Sie spielten ein Spiel nicht mit doppeltem, sondern mit fünf- oder zehnfachem Boden, und er hatte das Gefühl, allmählich die Übersicht zu verlieren. Gowenna, die Sumpfmänner, Arsan, er, Vela - sie alle waren nur Figuren. Aber er wußte mittlerweile selbst nicht mehr, wer nun die Regeln dieser Partie bestimmte.

Eine Zeitlang hatte er sich eingebildet, selbst derjenige zu sein, der letztlich die Fäden in der Hand hielt und die Dinge entscheiden konnte. Aber er wußte plötzlich, daß das nicht stimmte, daß alles viel verwirrender und geheimnisvoller war, als er bisher geglaubt hatte. Sie hatten den Stein gefunden, aber es war nichts Geheimnisvolles an ihm, nichts Magisches und Gewaltiges, er war - zumindest auf den ersten Blick - nichts weiter als ein Stück farbiges Glas. Die Situation erinnerte ihn auf absurde Weise an sein zweites Zusammentreffen mit der Errish. Und so wie damals fühlte er sich auch jetzt verwirrter und hilfloser als je zuvor in seinem Leben ... Das Erwachen war schwieriger als sonst.

Er hatte das Gefühl, in einem zähen, eisigen Sumpf gefangen zu sein, eingewoben in ein Netz unsichtbarer klebriger Fäden, die wie dünne feurige Linien in sein Fleisch bissen und ihn tiefer und tiefer zerrten. Er erinnerte sich an einen Traum, aber es war ihm nicht möglich, sich auf Einzelheiten zu besinnen - alles, was er spürte, war Kälte, ein Gefühl des Frierens, der Furcht und eisblauen, beißenden Schmerzes. Er wollte die Augen öffnen, aber zwischen seinen Lidern und den Augäpfeln schienen Millionen winziger Sandkörnchen zu sein. Er stöhnte, biß die Zähne zusammen und öffnete die Augen einen Spaltbreit.

Das Licht tat weh, unglaublich weh.

»Er wacht auf«, sagte eine Stimme. Sie kam Skar vage bekannt vor, und es schien, als wäre die Erinnerung daran mit etwas Unangenehmen, Gefährlichen verbunden.

Eis...

Das Wort blitzte schmerzhaft grell in seinem Bewußtsein auf. Er wußte nicht, womit er es verbinden sollte, aber plötzlich glaubte er, sich an ein helles Blau zu erinnern, das helle Blau von Eis, Kälte und ...

Er versuchte noch einmal, die Augen zu öffnen. Dunkelrotes Licht brannte sich in seine Netzhäute und fraß sich, schnell und flackernd wie eine Flamme, durch die Sehnerven bis in sein Gehirn. Er stöhnte, versuchte die Hände vor die Augen zu schlagen und spürte einen Widerstand.

»Laß es lieber«, sagte eine Stimme. »Es dauert nur wenige Augenblicke, bis du dich besser fühlst. Hier - ich gebe dir etwas.« Eine Hand berührte sein Gesicht, glitt kühl und leicht über seine Wangen und hielt irgend etwas an seine Lippen.