»Wie mutig«, sagte Skar ätzend. »Mit einer Waffe in der Hand neben einem gefesselten Mann zu sitzen und darauf zu warten, daß er aufwacht. Was hat dieser verdammte Zwerg mit mir gemacht?« Vela schien dem plötzlichen Gedankensprung nicht folgen zu können oder zu wollen. Sie runzelte die Stirn, sah ihn einen Moment fragend an und setzte sich dann kopfschüttelnd wieder auf. »Laß es, Skar«, sagte sie. »Ich bin nicht dumm. Ich habe dich für diese Aufgabe ausgesucht, weil du der fähigste Krieger bist, den ich überhaupt finden konnte. Ich werde ganz gewiß kein Risiko eingehen.«
Skar schürzte abfällig die Lippen. »Vielen Dank für das Kompliment.«
»Es war keines«, antwortete Vela. »Es war nur eine Tatsache, mehr nicht. Wollen wir jetzt noch mehr Zeit mit kindischen Spielereien vertun, oder reden wir?«
Skar starrte die Errish eine Weile finster an und hob dann die gefesselten Hände. »Macht mich los«, sagte er.
Vela lachte leise. »Du scheinst mich für eine Närrin zu halten, Skar«, sagte sie. »Ich werde dich losmachen, aber zuerst wirst du dir anhören, was ich zu sagen habe.«
»Und was wäre das?«
»Wir haben uns schon einmal getroffen, Skar«, begann Vela. »Ich habe dir gesagt, daß ich das nächste Mal fordern werde, was ich beim ersten Mal erbat, und so ist es. Du wirst tun, was ich von dir verlange. Du wirst nach Combat gehen und den Stein für mich holen.«
»Werde ich das?« erwiderte Skar. Seine Stimme klang nicht ganz so spöttisch, wie er es gerne gehabt hätte. Wie beim ersten Mal, als er mit Vela zusammengetroffen war, machte sich Unsicherheit in ihm breit. Er spürte auch jetzt wieder, daß er ein Duell mit Worten nicht gewinnen konnte. Die Errish standen nicht umsonst in dem Ruf, Hexen zu sein.
»Du wirst«, antwortete Vela ungerührt. »Denn wenn du es nicht tust...«
»Sterbe ich?« grinste Skar.
Vela schüttelte den Kopf. »Nein. Nicht du, Skar. Del.«
Die Worte wirkten wie ein Schlag in Skars Gesicht. Er fuhr hoch, starrte die Errish ungläubig an und unterdrückte im letzten Moment einen erschrockenen Ausruf. »Du -«
»Ich habe ihn in meiner Gewalt, ja«, sagte Vela. »Oder hast du gedacht, ich wäre so naiv, dir Forderungen zu stellen, ohne etwas in der Hand zu haben, womit ich dir drohen kann? Ich weiß, daß du keine Angst vor Schmerzen oder dem Tod hast. Nicht genug jedenfalls. Aber die Ehrenschuld einem Freund gegenüber steht bei euch Satai doch ganz an der Spitze, oder?«
Skar schwieg. Alles, was er hätte sagen können, hätte in diesem Augenblick nur albern geklungen.
»Du brauchst dir keine Sorgen zu machen«, fuhr Vela nach einer Weile fort. »Es geht deinem Freund gut, sehr gut sogar. Er hat alles, was er braucht.«
Skar versuchte noch einmal, sich gegen seine Fesseln zu wehren. Diesmal ignorierte er den brennenden Schmerz, mit dem sich die haardünnen Drähte in seine Haut fraßen. Aber es nutzte nichts. »Du vergeudest nur deine Kräfte, Skar«, sagte Vela tadelnd. »Diese Kette ist aus dem gleichen Metall gefertigt, aus dem auch dein Schwert geschmiedet wurde. Keine Macht der Welt kann sie zerreißen. Aber bitte - verletze dich ruhig, wenn du willst. Der Weg über das Schattengebirge ist weit. Deine Wunden werden verheilt sein, bis du Combat erreicht hast.«
»Ihr seid verrückt!« keuchte Skar. »Selbst wenn ich zustimmen würde, wäre es unmöglich. Niemand kann Combat betreten.« Für einen winzigen Moment huschte so etwas wie Zorn über Velas Gesicht. »Das stimmt nicht. Ich habe diese Aktion lange und gründlich vorbereitet, Skar«, sagte sie scharf. »Ihr habt eine gute Chance, in die Stadt hinein- und auch wieder herauszukommen, glaube mir. Ich habe nichts davon, zehn gute Männer in den sicheren Tod zu schicken. Hätte ich dich töten wollen, hätte ich es ein dutzendmal leichter und rascher haben können.« Sie sog scharf die Luft ein, lehnte sich zurück und sah Skar mit einem undefinierbaren Blick an. »Aber ich bin nicht hier«, fuhr sie fort, »um mich mit dir zu streiten, Satai. Ihr werdet noch vor Morgengrauen aufbrechen. Ich habe dafür gesorgt, daß ihr unbemerkt die Stadt verlassen könnt und ...«
»Ihr?« unterbrach Skar sie. »Wer ist das?«
»Du, Gowenna, Tantor und zwei weitere Männer.«
»Ihr spracht von zehn.«
»Der Weg den Besh hinauf ist weit, Skar«, antwortete Vela geduldig. »Die anderen werden zu euch stoßen, bis ihr die Sümpfe von Cosh erreicht habt. Aber ihr müßt euch beeilen. Der Winter steht vor der Tür. Ihr müßt das Schattengebirge überschreiten, bevor die Schneestürme beginnen und ...«
Skar unterbrach sie mit einer unwilligen Handbewegung. »Nicht so eilig, Errish«, sagte er. »Noch habe ich nicht zugesagt.«
»Du -«
»Ihr behauptet«, fuhr Skar mit übertriebener Betonung fort, »Del in Eurer Gewalt zu haben. Aber Ihr müßt es mir schon beweisen.«
»Ich muß überhaupt nichts, Skar«, sagte Vela ruhig. »Du hast mein Wort, und das muß dir genügen. Ich kann dir natürlich Dels rechte Hand zum Beweis bringen lassen, wenn du es unbedingt willst. Es ist deine Entscheidung.«
»Ihr kennt kein Mitleid, wie?«
»Nicht, wenn es um so wichtige Dinge geht«, antwortete Vela ungerührt. »Ich habe dich gewarnt, vergiß das nicht. Und ich habe nicht die Zeit, lange mit dir zu diskutieren. Gowenna und Tantor bereiten draußen alles vor. Hinter der Stadtmauer wartet ein Schiff auf euch. Ihr werdet losfahren, bevor die Sonne aufgeht. Gowenna hat sämtliche notwendigen Karten mit. Sie kann dir alles sagen, was du wissen mußt. Du wirst zurückkommen und mir den Stein aushändigen, und ich werde dir Del übergeben.«
»Und was sollte mich daran hindern, bei der ersten Gelegenheil zu fliehen?« fragte Skar. »Ihr könnt mich schlecht die ganze Zeit in Ketten halten.«
»Nichts«, sagte Vela.
Irgendwie hatte Skar plötzlich das Gefühl, daß sie sich über seine Worte amüsierte. Für einen Moment kam er sich vor wie eine Maus, die von einer Katze in die Ecke gedrängt worden ist und verzweifelt im Kreis herumirrt, um doch nur überall auf tödliche Krallen zu stoßen.
»Natürlich könntest du fliehen«, sagte Vela. »Und ich zweifle eigentlich nicht daran, daß du mit Gowenna, Tantor und den anderen fertig würdest, wenn du es wirklich wolltest. Selbst Tantor mit seinen Zauberkräften wäre dir letztlich nicht gewachsen, Skar. Das ist der Grund, aus dem ich dich ausgewählt habe. Du könntest sie erschlagen und zurückkommen, und wahrscheinlich könntest du selbst mich töten.« Sie beugte sich abermals vor, nahm den Schleier vom Gesicht und legte eine wirkungsvolle Pause ein.
»Aber ich werde nicht mehr hier sein, wenn du zurückkommst«, fuhr sie fort. »Ich werde die Stadt noch vor euch verlassen, und ich nehme Del mit mir. Du würdest Monate brauchen, um uns zu finden. Und du hast diese Monate nicht, Skar.«
»So ?«
Statt einer direkten Antwort griff Vela unter ihr Gewand und förderte einen kleinen Lederbeutel zutage. Sie hielt ihn einen Moment nachdenklich in der Hand und warf ihn Skar mit einem bösen Lächeln vor die Füße.
Skar runzelte die Stirn, zögerte merklich und griff nach dem Beutel. Er war schwer, schwerer, als er geglaubt hatte, und enthielt eine Anzahl glatter, brauner Kugeln, die ihn entfernt an Nüsse erinnerten.
»Was ist das?« fragte er.
»Du wirst jeden zweiten Tag eine davon nehmen«, sagte Vela. »Wenn du sie zählst, wirst du feststellen, daß es fünfzig sind. Du hast hundert Tage. Genug, um nach Combat zu gehen und zurückzukommen.«
Skar drehte den Lederbeutel unschlüssig in den Händen. »Und warum«, fragte er, unsicher und von einer dumpfen Ahnung erfüllt, »sollte ich das tun?«