»Wir müssen ... weiter«, flüsterte Gowenna. Es waren die ersten Worte, die sie sprach, seit sie den Altarraum unter der Kuppel des Tempels verlassen hatten, und ihre Stimme klang fremd und verzerrt in Skars Ohren. Ihre Lippen waren aufgeplatzt und starr von verkrustetem Blut; sie hatte Mühe, überhaupt zu sprechen.
Skars Hand fuhr zum hundertsten Male unter den Harnisch. Er hatte den Stein zu seinem Vorrat an Leben in den Lederbeutel gesteckt. Er spürte ihn durch das dünne Leder hindurch - ein hartes, kaltes Etwas, das gleichermaßen Leben wie millionenfachen Tod bedeutete. Seltsamerweise ließ ihn der Gedanke an die Macht, die er mit sich trug, kalt. Er hatte niemals nach Macht gestrebt, obwohl er sie ein dutzendmal hätte haben können, und er erlag ihrer Verlockung auch jetzt nicht. Gerrions Tod war ihm Warnung genug. Sie stolperten kraftlos auf das schwarze Gebäude zu. Unter ihren Füßen wirbelten kleine, heiße Staubwolken auf, und der Wind hämmerte mit unsichtbaren Fäusten in ihre Gesichter, als biete die Natur noch einmal alle Macht auf, um sie im letzten Moment zurückzuhalten. Die Entfernung betrug nur noch ein paar Dutzend Schritte, aber sie erschienen Skar weiter und qualvoller als die unzähligen Meter, die sie im Inneren Combats zurückgelegt hatten. Er kam sich wie in einem jener bösartigen Spiegelkabinette gefangen vor, die man manchmal auf Jahrmärkten antraf: nur Gänge, deren Ausgang sich desto weiter zu entfernen schienen, je schneller man lief. Das Gebäude begann vor seinen Augen zu verschwimmen, und ein dumpfer, grauer Druck machte sich hinter seiner Stirn breit; brodelnder Schmerz, von dem dünne Fäden durch seinen Körper schössen ...
Seine Hand tastete wieder nach dem Beutel, aber er führte die Bewegung nicht zu Ende. Er würde eine weitere der kleinen braunen Kugeln schlucken müssen; zwei Tage Leben weniger in seiner Rechnung. Aber jetzt noch nicht. Nicht, bevor er das Haus erreicht hatte. Diese wenigen letzten Schritte war er sich und seinem Stolz schuldig.
Er wankte weiter, stolperte über einen Felszacken und fiel in El-tras ausgebreitete Arme. Er hatte nicht gemerkt, daß der Sumpfmann ihm gefolgt war, daß Gowenna nicht länger drei, sondern nur mehr einen schweigenden grauen Schatten hatte und der andere nicht von seiner Seite gewichen war, seit sie den Gang verlassen hatten. Er schüttelte den Kopf und wollte sich losmachen, aber El-tra schob seine Hand einfach beiseite und lud ihn wie ein Kind auf die Arme. Skar war zu schwach, um sich ernsthaft zu wehren.
Er mußte für einen kurzen Moment das Bewußtsein verloren haben, denn das nächste, was er wahrnahm, war der rauhe Stein unter seinem Rücken und das milde, graue Licht im Inneren des Gebäudes. Jemand schob die Hand unter seinen Kopf, hob ihn behutsam an und setzte einen Wasserschlauch an seine Lippen. Das Wasser schmeckte bitter, warm und abgestanden, aber er trank trotzdem mit schnellen, gierigen Schlucken.
Die wirbelnden Schwaden vor seinen Augen lichteten sich nur langsam. Er blinzelte, setzte sich mühsam auf und stützte den Kopf in die Handflächen. In seiner Brust wütete ein pochender, scharfer Schmerz, und seine Gedanken waren in einem Netz dünner, grauer, klebriger Fäden gefangen. Das Gift in seinen Adern begann stärker zu wirken. Wieder kroch seine Hand zu dem ledernen Brustbeutel unter dem Harnisch, aber seine Finger schienen plötzlich zu grob, um die dünne Lederschnur zu ergreifen und den Knoten zu öffnen. »Warte«, sagte eine Stimme über ihm. »Ich helfe dir.«
Skar sah verblüfft auf und blickte in El-tras formloses Nebelgesicht. Es war das erste Mal, daß einer der drei Sumpfleute das Wort direkt an ihn richtete, und Skar spürte das Besondere der Situation. El-tras Worte waren mehr als ein Ausdruck von Hilfsbereitschaft, und als der Sumpfmann vor ihm niederkniete und seine Hand berührte, spürte er eine Welle warmen, wohltuenden Vertrauens, ein Gefühl der Zuneigung, des Menschseins, das er im Wesen der Chamäleonmänner bisher vermißt hatte.
El-tra löste behutsam den Beutel von Skars Hals, nahm eine der unscheinbaren braunen Kugeln heraus und legte sie in Skars geöffnete Hand. Skar führte sie rasch zum Mund, aber er zögerte noch, sie zu zerbeißen und hinunterzuschlucken. Mit einem Mal erschien ihm alles sinnlos, alles, was geschehen war und was noch geschehen würde. Das winzige glatte Etwas zwischen seinen Zähnen würde sich innerhalb weniger Augenblicke auflösen und die Wirkung des Giftes stoppen; zwei Tage mehr Leben, aber vielleicht auch nur zwei Tage weiterer sinnloser Qual, zwei weitere Tage eines Kampfes, den er nicht gewinnen konnte.
Trotzdem zerbiß er sie schließlich. Er schluckte ein paarmal, auch, als sein Mund längst leer war, und spülte den bitteren Geschmack mit Wasser aus dem Schlauch hinunter, den ihm El-tra hinhielt.
Die Wirkung des Gegengifts setzte fast augenblicklich ein. Eine warme, wohltuende Welle aus Stärke und einem ganz und gar ungerechtfertigten Optimismus spülte durch seinen Körper und seinen Geist, vertrieb die Schmerzen aus seinen Muskeln und die grauen Spinnweben aus seinem Kopf.
Skar sah auf, als ein Schatten auf den Boden vor ihm fiel.
Es war Gowenna. Er mußte länger am Rande der Bewußtlosigkeit gewesen sein, als ihm bisher klar gewesen war, denn Gowenna hatte Zeit gehabt, die versengten Kleider zu wechseln und sich zu waschen.
Skar erschrak, als er in ihr Gesicht sah. Die Brandwunden waren nicht so schlimm, wie er bisher geglaubt hatte - eine Anzahl großer, rot unterlaufener Blasen verunzierten ihre Wangen und die Stirn, sicher sehr schmerzhaft, doch sie würden rasch heilen und kaum bleibende Narben hinterlassen. Aber etwas anderes hatte sich in ihrem Antlitz gewandelt, etwas, das ihn mehr erschreckte, als es jede körperliche Wunde hätte tun können. Da war eine Verletzung, tiefer und schmerzhafter, als sie jede noch so heiße Flamme hätte schlagen können, eine Wunde nicht ihres Körpers, sondern der Seele. Skar versuchte vergeblich, eine Erklärung für den Ausdruck unsäglichen Schmerzes auf ihren Zügen zu finden. Es konnte nicht allein die Tatsache sein, daß sie versagt hatte, daß er es gewesen war, der den Stein geborgen hatte. Da war noch mehr, ein Schmerz, für den er keine Erklärung fand, etwas, das ihn an den Ausdruck in den Augen eines Menschen erinnerte, dessen Welt zusammengebrochen war, der das einzige verloren hatte, woran er glaubte. »Tantor ist fort«, sagte sie. Die Worte kamen schleppend. In ihrer Stimme klang etwas von dem gleichen Schmerz, der sich in ihre Züge gebrannt hatte.
Es dauerte einen Moment, ehe Skar wirklich begriff, was sie gesagt hatte.
Er stand auf, wartete, bis das Schwindelgefühl in seinem Kopf nachließ, und sah sich erschrocken um. Die plötzliche Bewegung ließ eine neue Welle von Übelkeit in ihm aufsteigen. Er war bei weitem nicht so kräftig, wie er sich eingebildet hatte.
»Was ... heißt das?« fragte er lahm.
»Fort«, wiederholte Gowenna. »Er ist verschwunden. Zusammen mit den Packpferden und den gesamten Vorräten. Nur etwas Wasser hat er uns dagelassen.«
Skar starrte sie sekundenlang verwirrt an und drehte dann noch einmal - vorsichtiger diesmal - den Kopf, als müsse er sich selbst davon überzeugen, daß Gowenna die Wahrheit sprach.
Der würfelförmige Raum war leer. Die schwarzverbrannte Stelle auf dem Boden zeigte noch, wo das Feuer gebrannt hatte, aber mit Ausnahme einiger nur halb gefüllter Wasserschläuche war weder von dem Zwerg noch von ihrer Ausrüstung eine Spur zu entdecken. »Und die ... Pferde?« fragte er stockend, obwohl er die Antwort bereits kannte.
Gowenna schüttelte stumm den Kopf.
»Aber warum?« murmelte Skar. »Was hätte er davon, uns im Stich zu lassen? Wir -« Er stockte, starrte einen Augenblick an Gowenna vorbei und schüttelte gleichermaßen verwirrt wie erschrocken den Kopf.