Выбрать главу

»Ich weiß«, sagte Skar. »Aber ich könnte nicht behaupten, daß ich stolz darauf bin. Ihr habt euch den falschen Mann ausgesucht, El-tra.«

Nun war es der Sumpfmann, der nicht auf seine Worte einging. Er schwieg eine Weile, ließ sich dann - Skars Haltung nachahmend - neben ihm auf den Boden sinken, kreuzte die Beine und lehnte den Rücken gegen die Wand. Er sagte nichts, und Skar spürte, daß er auch nicht noch einmal von sich aus das Wort ergreifen würde. Aber Skar empfand plötzlich ein absurdes Gefühl der Dankbarkeit, Dankbarkeit dafür, daß jemand bei ihm war, einfach dasaß und nichts sagte, der zuhören, seine Verzweiflung und Müdigkeit teilen konnte.

Behutsam löste Skar den Lederbeutel von seinem Hals, öffnete ihn und nahm den Stein hervor. Das blaue Leuchten war mittlerweile ganz erloschen, und er erschien Skar mehr denn je wie ein gewöhnliches, schon etwas blind gewordenes Stück Glas. Er ließ ihn vorsichtig auf seine geöffnete Handfläche fallen, hielt ihn dicht vor das Gesicht und versuchte, einen Sonnenstrahl in den winzigen Facetten seiner Oberfläche aufzufangen. Es mißlang.

»Was ist das?« fragte er leise. Die Worte galten mehr ihm selbst als dem Sumpfmann, und El-tra antwortete auch nicht. »Wie viele Menschen sind dafür gestorben?« fuhr er fort. »Hunderte? Tausende? Welche Macht verleiht er seinem Besitzer?«

»Ich weiß es nicht«, sagte El-tra. »Niemand weiß das.«

»Nicht einmal Vela?«

»Nicht einmal Vela«, bestätigte der Sumpfmann. »Er kann alles bedeuten - oder nichts. Er ist ein Schlüssel, Skar, nicht mehr. Der Schlüssel zu einem Ding, das ...« Er brach ab, und Skar wußte, daß er nicht weiterreden würde. Er hatte bereits mehr gesagt, als er gewollt hatte. Viel mehr.

»Schon gut«, murmelte Skar. »Ich werde es herausfinden, irgendwann.« Er schloß die Faust um den Stein, steckte ihn aber noch nicht zurück in den Beutel. Wieder lauschte er in sich hinein, suchte in den tiefsten Winkeln seiner Seele nach einem Echo, nach irgend etwas, das auf den glatten, kühlen Stein in seiner Hand reagierte. Aber da war nichts. Der Stein war tot.

»War er das alles wert?« fragte er. »War er es wert, daß so viele Menschen dafür starben?«

»Viele von euch sind für weniger gestorben«, antwortete El-tra ruhig. »Für eine Idee, einen Traum ...« Er schwieg, breitete in einer bedrückend menschlich wirkenden Geste die Hände aus und ließ den Kopf gegen die Wand sinken. »Ihr überschätzt den Wert des Lebens«, sagte er. »Der einzelne zählt nichts, solange die Gemeinschaft weiter besteht.«

Skar lachte leise, aber es war ein Laut ohne Humor, eigentlich ohne jedes echte Gefühl.

»Was amüsiert dich daran, Satai?« fragte El-tra.

»Oh - nichts.« Skar setzte sich auf, ließ den Stein wieder in den Beutel gleiten und sah den Sumpfmann kopfschüttelnd an. »Ich frage mich, wie ein Wesen, das nicht einmal über eine eigene Identität verfügt, über das Schicksal eines Menschen philosophieren kann. Ihr wart nie zu dritt, nicht?«

»Nein«, bekannte El-tra. »Eins - drei - Millionen Facetten eines einzigen großen Wesens. So wie Gowenna, Vela, Arsan und du und alle anderen Menschen ebenfalls. Ihr habt es nur noch nicht gemerkt.«

»Oder ihr habt noch nicht gemerkt, daß es so etwas wie ein eigenes Leben gibt«, konterte Skar. »Man kann die Sache von zwei Seiten sehen.« Obwohl er mit jeder Sekunde müder zu werden schien und seine Gedanken träge wie Sirup durch seinen Schädel krochen, begann ihm die Diskussion Spaß zu machen. Es war das erste Mal, daß der Sumpfmann so frei über sich und sein Volk sprach, und Skar begann zu spüren, daß die beiden bizarren Wesen vielleicht mehr waren als Gowennas Vertraute und Wächter.

»Individualismus ist nicht das höchste Ziel«, widersprach El-tra nach kurzem Zögern. »Sieh dir unser Volk an, Skar, und betrachte deines. Wir kennen das, was ihr Persönlichkeit nennt, nicht. Nicht so wie ihr. Aber wir leben seit Jahrtausenden in Frieden, während ihr euch in einem immerwährenden Krieg zerfleischt.«

Skar machte eine ärgerliche Handbewegung. »Frieden«, stieß er hervor. »Im Grab ist auch Frieden, El-tra. Uod ihr zahlt einen hohen Preis dafür. Ihr seid isoliert. Ausgestoßen.«

»Glaubst du?« Wieder schwieg El-tra lange, als müsse er sich die Antwort genau überlegen. »Wer sagt dir, daß nicht wir euch ausgestoßen haben, und nicht umgekehrt?« Für einen Moment blitzte ein fast spöttisches Lächeln durch die grauen Nebel unter seiner Kapuze. »Und wie ist es mit dir und Del?« fuhr er dann fort. »Auch ihr seid Geistbrüder, mehr, als dir vielleicht bewußt ist. Töte den einen, und der andere stirbt.«

»Unsinn«, knurrte Skar.

El-tra nickte. »Sicher. Vielleicht ist Del schon nicht mehr am Leben, vielleicht stirbst du mit uns in wenigen Stunden oder Tagen, und der andere wird weiterleben. Aber er wird nicht mehr der sein, der er vorher war.«

Diesmal verzichtete Skar auf eine Antwort. Es gab nichts, was er hätte sagen können. El-tra hatte recht, in jedem einzelnen Punkt. Skar hatte bereits begonnen, sich zu verändern. Von seiner früheren Stärke und Sicherheit war nicht viel geblieben, er fühlte sich verwirrt, hilflos, schwach. Er wußte nicht, was geschehen wäre, wäre Del bei ihm geblieben, aber soviel wußte er, daß alles ganz, ganz anders gekommen wäre.

El-tra erhob sich mit einer plötzlichen fließenden Bewegung, nickte noch einmal und ging ohne ein weiteres Wort zu Gowenna und dem zweiten Sumpfmann zurück.

Er wußte nicht, wie lange er geschlafen hatte, aber es war merklich dunkler geworden, als Arsan ihn weckte. Im ersten Moment hatte er Mühe, in die Wirklichkeit zurückzufinden. Es waren nicht die grauen Spinnweben des Giftes, die seine Gedanken gefangen hielten, sondern einfach Müdigkeit, Erschöpfung von einer Tiefe, wie er sie lange nicht mehr verspürt hatte.

Er sah auf, blickte in Arsans Gesicht und versuchte sich hochzustemmen. Es gelang ihm erst beim zweiten Anlauf.

»Was gibt es?« fragte er undeutlich.

Arsan deutete mit einer Kopfbewegung zur Tür. Vor dem Ausgang herrschte noch heller Tag, aber die Sonne war weitergewandert, so daß ihre Strahlen nun nicht mehr direkt in den Eingang fielen, und das Innere des Gebäudes war in grauen Schatten versunken. »Komm mit«, sagte er einfach.

Skar stand vollends auf, hielt sich einen Moment an der Wand fest, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, und folgte dann dem Kohoner zum Ausgang.

»Was ist los?« fragte er noch einmal.

Arsan sah ihn mit seltsamem Ausdruck an. In seinem Blick lag Schrecken, aber auch Resignation. Er hob die Hand und deutete nach Westen. »Dort.«

Zuerst gewahrte Skar nichts außer den massigen Schatten der Berge, die hinter einem Vorhang aus heißer Luft auf und ab zu tanzen schienen. Seine Augen, gewöhnt an die graue Dämmerung hier drinnen, begannen unter dem grellen Licht zu tränen, und irgendwo über seiner Nasenwurzel saß plötzlich ein kleiner scharfer Schmerz. Erst nach einer Weile erkannte er, was der Kohoner gemeint hatte: Auf halbem Wege zwischen ihnen und der Schneegrenze, vielleicht noch drei, höchstens vier Meilen entfernt, bewegte sich eine Anzahl winziger dunkler Punkte.

»Reiter«, murmelte Arsan. »Das sind Reiter.« Seine Stimme klang auf unangemessene Weise ruhig, beinahe heiter. Skar hätte Schrecken oder zumindest Überraschung erwartet, aber in den Worten des Kohoners schwang nichts von alledem mit. Er schien das Auftauchen der Reiter so gelassen hinzunehmen, als wäre es die natürlichste Sache der Welt, als gehöre ihre Anwesenheit ebenso selbstverständlich zu der Szenerie wie die Berge im Westen und die zerschründete Ebene davor.

Skar sah den kleinwüchsigen Mann verwirrt an und wandte sich dann wieder den Reitern zu. Er schätzte ihre Anzahl auf fünf oder sechs, war sich aber nicht sicher. Es konnten mehr sein; in der hitzeflimmernden Luft war es schwer, Einzelheiten zu erkennen. »Das müssen die sein, die uns die ganze Zeit verfolgt haben«, sagte Gowenna hinter ihm. »Sie hätten sich keinen besseren Augenblick aussuchen können, um uns zu überfallen.«