Skar drehte sich um. Er hatte nicht gemerkt, daß Gowenna hinter ihn getreten war. Als Arsan ihn weckte, hatte sie schlafend zwischen den beiden Sumpfmännern gelegen.
»Wer sagt dir, daß sie uns überfallen wollen?« fragte er lauernd. Gowenna wandte mit einem schnellen Ruck den Kopf. In ihren Augen blitzte es spöttisch auf. »Sie sind wohl kaum hier, um einen Becher Wein mit uns zu trinken«, gab sie zurück. »Die sind hinter uns her.«
»Und das weißt du?« antwortete Skar. »Ich meine - du befürchtest es nicht nur? Du weißt es!«
Das Erschrecken auf ihrem Gesicht war nicht zu übersehen. »Du hast es die ganze Zeit schon gewußt, nicht wahr?« fuhr er rasch und ohne ihr Gelegenheit zu einer Erwiderung zu geben, fort. »Deshalb bin ich hier. Vela war nicht die einzige, die von der Existenz des Steines gewußt hat.«
»Und wenn es so wäre?« gab Gowenna trotzig zurück. »Was würde das ändern?«
»Eine Menge«, erwiderte Skar ruhig. »Wenn ich die Wahl habe, dann übernehme ich lieber die Rolle des Jägers als die des Gejagten. Wir hätten ihnen irgendwo in den Bergen auflauern und -«
»O ja«, unterbrach ihn Gowenna spöttisch. »Genau diese Reaktion habe ich von dir erwartet, Satai. Du hättest den Helden gespielt und unsere Mission in Gefahr gebracht.«
»Zum Kampf kommt es so oder so«, antwortete Skar mit einer wütenden Kopfbewegung in Richtung der näher kommenden Reiter. »Aber die Karten wären vielleicht ein wenig besser verteilt gewesen. Wer sind diese Männer?«
»Das weiß ich so wenig wie du.«
»Du lügst!« fauchte Skar. »Du wußtest vom ersten Tag an, daß wir verfolgt werden, lange, bevor ich oder einer der anderen es bemerkt haben! Und du wußtest auch, von wem!«
»Ich weiß es nicht, Skar«, erwiderte Gowenna. »Vielleicht habe ich einen Verdacht, aber ich werde nicht darüber reden. Nicht jetzt.«
Skar sog hörbar die Luft ein. Für einen winzigen Moment kämpfte er mit aller Kraft gegen den übermächtig werdenden Drang an, sich auf Gowenna zu stürzen und das zu tun, was er die ganze Zeit hätte tun sollen - sie zu packen und die Wahrheit aus ihr herauszuprügeln. Er spürte, daß es jetzt kein Zurück mehr gab. Sie hatte ihn zu lange hingehalten, zu lange versucht, ihn an der Nase herumzuführen, vor den anderen und vor allem vor sich selbst. Und er hatte zu lange dazu geschwiegen. Aber er spürte auch, wie gefährlich die Situation war, in der sie sich beide befanden. Ihr Streit begann sich zu eskalieren.
Sie waren beide erschöpft, mehr, als ihnen selbst bewußt war, erschöpft und überreizt. Aber er hatte auch einen Punkt erreicht, wo er einfach nicht mehr wollte.
»Allmählich reicht es mir«, sagte er mit mühsam erzwungener Ruhe. »Seit wir aufgebrochen sind, hast du mich belegen. Du hast mich verspottet, verhöhnt und beleidigt, und ich habe die ganze Zeit dazu geschwiegen. Ich habe Rücksicht darauf genommen, daß du eine Frau bist, Gowenna, aber damit ist es jetzt vorbei. Du hast, was du haben wolltest, also sag mir endlich, was hier gespielt wird.« Gowenna schürzte trotzig die Lippen. Für einen Moment blitzte in ihrem Blick wieder der alte Hochmut auf. Sie wandte sich ab, trat zwei, drei Schritte in den Raum hinein und blieb erst stehen, als Skar ihr nachsetzte und sie grob am Arm zurückriß.
»Rede endlich!«
Gowenna machte sich mit einem wütenden Blick frei. Ihre Hand zuckte zum Schwertgriff. »Tu das nicht noch einmal!« zischte sie. »Ich habe dir gesagt, daß du mich nicht noch einmal anrühren sollst, und ich sage es kein drittes Mal, Skar!«
Skar verzog das Gesicht zu einem bewußt verletzenden Lächeln. »Mach dich nicht lächerlich, Gowenna«, sagte er provozierend ruhig. »Ich will Antworten. Du kannst deine Zirkusnummer aufführen, wenn Zeit dafür ist. Nicht jetzt.«
Gowenna erbleichte. Für den Bruchteil einer Sekunde breitete sich ein fassungsloser, beinahe entsetzter Ausdruck auf ihren Zügen aus, ein flüchtiger Schatten von Erschrecken, von Furcht. Ihre Hand krampfte sich so fest um den Schwertgriff, als wollte sie ihn zerbrechen.
Skar sah die Bewegung im letzten Moment.
Er hatte geahnt, daß Gowenna schnell sein würde, aber er hatte nicht geahnt, daß sie so schnell war. Ihr Schwert sprang, in einer Bewegung, die fast zu blitzartig war, als daß das Auge ihr folgen konnte, aus der Scheide und züngelte in einem tödlichen Halbkreis flirrenden Stahls direkt auf ihn zu.
Skar warf sich zurück und versuchte gleichzeitig seine eigene Waffe zu ziehen. Es gelang ihm nicht mehr ganz, aber der geschliffene Stahl glitt auf Armlänge aus der Hülle und bildete so eine Sperre dicht über seinem Körper. Ein hoher, peitschender Laut brachte die Luft zum Schwingen, als die beiden Klingen aufeinanderprallten. Skar schrie vor Schmerz auf, als sein Handgelenk - im falschen Winkel und verspannt - die ganze Kraft des Hiebes auffing. Die Wucht des Aufpralls schleuderte ihn vollends hintenüber, ließ aber auch Gowenna zurücktaumeln und gab ihm so Gelegenheit, wieder auf die Füße zu kommen.
Er ließ ihr nicht einmal die Spur einer Chance. Vierzig Tage Haß, vierzig Tage aufgestauter Wut und Verzweiflung entluden sich in einem einzigen mörderischen Hieb. Sein Schwert schmetterte Gowennas Waffe zur Seite, züngelte in einer ungeheuer raschen Bewegung nach ihrem Gesicht und hinterließ, im letzten Moment herumgerissen, einen langen, blutigen Schnitt auf ihrer Wange, prallte in der Abwärtsbewegung abermals gegen ihr Schwert, die Klinge wie Glas zerbrechend und sie selbst meterweit zurückschleudernd. Skar schleuderte seine Waffe fort und setzte mit einem wütenden Sprung nach. Gowenna versuchte sich zu wehren, aber sie hatte nicht mehr Chancen als ein Kind gegen einen wütenden Quorrl. Ihre Hand zuckte hoch, Zeige- und Mittelfinger zum tödlichen »V« gespreizt und auf seine Augen gezielt. Er schlug sie mit einer fast spielerischen Bewegung zur Seite, parierte einen Kniestoß mit dem Ellbogen und schlug ihr den Unterarm quer über den Leib.
Gowenna stieß einen gurgelnden Laut aus, verkrampfte die Hände über dem Bauch und brach in die Knie. Skars abschließender Tritt wäre nicht mehr nötig gewesen, um sie vollends zu Boden zu schleudern. Aber es bereitete ihm Freude - für einen winzigen Moment bereitete es ihm Freude, ihr seine ganze Überlegenheit zu zeigen, ihr weh zu tun, sie, anstelle von Vela, deren er nicht habhaft werden konnte, zu quälen, zu schlagen und zu demütigen.
Und er tat es weiter, wenn schon nicht mit Taten, so doch mit Worten. »Hast du jetzt genug?« fragte er schweratmend. »War es das, was du wissen wolltest? Oder soll ich weitermachen?« Er bückte sich, riß sie grob vom Boden hoch und schleuderte sie gegen die Wand.
Sie stöhnte. Ihr Gesicht war blutüberströmt. Sie brach wieder in die Knie, krümmte sich vor Schmerzen und versuchte qualvoll zu atmen. Wahrscheinlich verstand sie seine Worte gar nicht, aber er sprach trotzdem weiter, sprudelte all das hervor, was sich wochenlang in ihm aufgestaut hatte, gleichermaßen erschrocken über seine eigenen Worte wie unfähig, sie zurückzuhalten. »Du bist ja eine so große Kriegerin, nicht?« sagte er. Seine Stimme troff vor Hohn, jedes Wort, jede einzelne Silbe war ein Hieb, der sie treffen, verletzen, quälen sollte. »Die ganze Welt soll sich vor dir fürchten, nicht wahr? Aber selbst ein Satai-Novize würde dich mit leeren Händen fertigmachen. Du bist nicht so stark, wie du glaubst. Du bist nichts, Gowenna, nichts als ein verbittertes, männerhassendes Weib, das sich für unbesiegbar hält, nur weil es ein Schwert führen kann und von zwei Ungeheuern bewacht wird. Du wirst mir jetzt die Wahrheit sagen! Ich will wissen, was es mit diesem Stein auf sich hat, und ich will wissen, wer diese Männer sind!«
Jemand riß ihn grob am Arm zurück. Skar fuhr herum, darauf gefaßt, von den beiden Sumpfmännern angegriffen zu werden. Aber es war nur Arsan. »Hör auf, Skar!« sagte er mit zitternder Stimme. »Hör auf!«