»Warum habt ihr es nicht getan?« fragte er leise. »Es hätte zumindest euer Leben gerettet.«
»Gowenna verbot es uns«, antwortete El-tra. Er wandte den Kopf, starrte gleich Skar zu den näher kommenden Reitern hinüber und wechselte dann abrupt das Thema. »Du hättest sie nicht schlagen dürfen, Skar.«
Die Worte stachen wie kleine glühende Messer in Skars Gehirn. »Warum habt ihr es nicht verhindert?« fragte er in dem ebenso törichten wie nutzlosen Versuch, sich zu verteidigen und El-tra wenigstens einen Teil der Schuld anzulasten.
El-tra schüttelte sanft den Kopf. »Ich habe einmal mit dir gekämpft, Skar, vergiß das nicht. Ich kenne dich und weiß, wie du zu kämpfen verstehst. Ich hätte dich töten müssen, und das wollte ich nicht.«
»Du warst das, damals in der Arena?«
El-tra machte eine unbestimmbare Handbewegung. »Ich oder einer meiner Geistbrüder, das ändert nichts. Was der eine tut, tut der andere, und was einer fühlt, fühlen alle.«
Skar starrte weiter auf die beständig näherrückenden Reiter. Sie mußten ihn längst gesehen haben, ihn und El-tra, deckungslos wie sie hier oben auf dem Felsen saßen. Aber das spielte schon keine Rolle mehr.
»Wir sollten hinuntergehen und uns um Arsan und Gowenna kümmern«, sagte El-tra nach einer Weile.
Skar stand wortlos auf und folgte dem Sumpfmann in den Krater hinunter. Arsan hockte noch immer wie betäubt dort, wo sie ihn zurückgelassen hatten. Er würde nicht mehr kämpfen. Für ihn war die Reise vorbei, ganz egal, wie diese Begegnung endete. Selbst wenn gleich mehrere Wunder geschahen und sie lebend davonkamen, würden sie nur noch eine leere Hülle mit zurückbringen, einen Mann, der noch existierte und atmete, aber nicht mehr lebte. Rasch ging er an ihm vorüber und näherte sich Gowenna. Sie war aus ihrer Starre erwacht und saß aufrecht, in fast unnatürlich steifer Haltung, auf dem Felsen.
Ihre Wangen glitzerten feucht.
Sie weinte ...
Erneut fühlte sich Skar schuldig. Es war nicht nötig gewesen, sie zu demütigen.
»El-tra hat mir alles gesagt«, begann er übergangslos. Seine Stimme klang rauh und holperig, und es fiel ihm selbst jetzt noch schwer, die Worte hervorzustoßen. »Es tut mir leid. Und ich danke dir.«
»Du dankst mir?« antwortete Gowenna. Es waren die ersten Worte, die sie seit Verlassen des Gebäudes am Rande Combats sprach. »Du dankst mir, Skar? Wofür? Daß ich dich hierher geführt habe und du sterben wirst?«
»Daß du mir das Leben geschenkt hast«, sagte Skar. »Ich ... ich habe dir weh getan, mehr als ich gedurft hätte, und ...«
Gowenna lachte schrill auf. »Du hast mir weh getan?« keuchte sie. »Du?« Sie stand auf, trat mit einem raschen Schritt auf ihn zu und schluckte ein paarmal schwer. »Du?« sagte sie zum dritten Mal. »Du kannst mir gar nicht weh tun, Satai. Du verstehst nichts. Gar nichts. Und jetzt gib mir ein Schwert. Ich will wenigstens noch einen von diesem Gesindel mitnehmen, ehe ich sterbe.«
Skar fühlte sich verwirrt. Aber er griff trotzdem an den Gürtel, zog sein Schwert und gab es Gowenna. Sie nahm es, drehte es ein paarmal in den Händen und sah ihn fragend an.
»Deine eigene Waffe?«
»Ich habe die deine zerbrochen«, antwortete Skar. »Und sie würde mir so oder so nichts nutzen. Der Anführer der anderen ist ein Satai.«
»Ich weiß.« Gowenna nickte gleichmütig. Von einem Augenblick zum anderen verwandelte sich ihr Gesicht wieder in die altbekannte, starre Maske. Wäre der kaum verkrustete Schnitt auf ihrer Wange nicht gewesen, hätte Skar ernsthaft an dem gezweifelt, was in den letzten Stunden geschehen war. Gegen seinen Willen bewunderte er sie. Trotz allem hatte sie noch mehr innere Kraft, als er jemals hätte aufbringen können. Aber vielleicht war es auch bloß Trotz.
»Erwarten wir sie hier?« fragte Gowenna.
Skar zögerte sekundenlang. »Es ist Wahnsinn, Gowenna«, sagte er anstelle einer direkten Antwort. »Wir können nicht gegen sie kämpfen. Nimm den Stein und fliehe. Ich werde versuchen, sie aufzuhalten. Wenn Vela mich will, soll sie mich haben.«
Gowenna verzog spöttisch die Lippen. »Wie edel!« sagte sie in abfälligem Tonfall. »Der große Satai opfert sich.« Sie lachte leise, rammte das Schwert in die leere Scheide an ihrer Seite und sah ihn mit einem Blick an, als stünde sie einem störrischen Kind gegenüber. »Um mit deinen eigenen Worten zu sprechen, Skar - führ deine Zirkusnummer auf, wenn Zeit dazu ist. Es ist nicht der richtige Moment für großmütige Gesten. Außerdem hast du kein Publikum. Es gäbe also niemanden, der deine Tat zu würdigen wüßte. Wir werden kämpfen. Wie viele sind es?«
»Zehn«, antwortete Skar. »Das heißt - neun. Neun und der Satai.«
Gowenna biß sich nachdenklich auf die Unterlippe. Ihre Haltung wirkte mit einem Mal gleichzeitig gelöst und angespannt. Von Schwäche und Erschöpfung war nichts mehr zu bemerken. »Traust du dir zu, mit dem Satai fertig zu werden?«
Skar hob die Schultern. »Ich werde es versuchen«, sagte er. »Aber-«
»Wenn du es schaffst, ihn lange genug hinzuhalten, haben wir eine Chance«, fuhr Gowenna fort, ohne weiter auf seine Worte zu achten. »Sie ist nicht groß, aber sie besteht, und -«
Ein harter Stoß traf Skar in den Rücken, ließ ihn gegen Gowenna und sie beide zu Boden taumeln. Er fiel, rollte sich blitzschnell über die Schulter ab und wirbelte noch im Aufspringen herum.
Dort, wo Gowenna gestanden war, zitterte der schlanke Schaft eines Pfeiles im Boden. Sie hatten zu lange geredet, um jetzt noch die Wahl zwischen Kämpfen und Fortlaufen zu haben. Die Verfolger waren da, über und hinter ihnen; neun große, gegen den allmählich grau werdenden Abendhimmel beinahe schwarz erscheinende Gestalten, stumm und drohend nebeneinander aufgereiht wie schweigende Boten des Todes.
Skar tauschte einen raschen Blick mit dem Sumpfmann, der ihn weggestoßen hatte. »Danke«, murmelte er.
El-tra nickte flüchtig und konzentrierte sich dann wieder auf die Angreifer.
Irgend etwas in ihrem Verhalten irritierte Skar. Sie saßen in der Falle, endgültig und unausweichlich. Vom Kraterrand aus wäre es für die Männer ein leichtes gewesen, ihn und die anderen mit ein paar gezielten Schüssen niederzustrecken. Skar vermochte einem heranzischenden Pfeil durchaus auszuweichen oder ihn auch beiseitezuschlagen, aber das galt nicht mehr bei fünf oder sechs gleichzeitig abgefeuerten Geschossen. Trotzdem verzichteten die Krieger darauf, ein Ende zu machen. Es schien, als warteten sie auf etwas. »Geht auseinander«, sagte Skar, ohne den Blick von den schwarzen Schatten auf dem Kraterrand über sich zu wenden.
Die beiden Sumpfmänner wichen in entgegengesetzte Richtungen aus, bewegten sich gleichzeitig auf die Männer zu. Die Distanz zwischen ihnen und den Pfeilspitzen verringerte sich merklich, aber der Schußwinkel wurde auch steiler und ungünstiger für die Angreifer. Skar selbst blieb stehen, wo er war, während Gowenna nur ein paar Schritte zurück und zur Seite trat. Die Waffen der Angreifer folgten mißtrauisch jeder ihrer Bewegungen; trotzdem spürte Skar, daß sie nicht schießen würden. Auch der erste Pfeil war nicht abgefeuert worden, um zu töten. Er war gezielt gewesen, aber die Männer mußten gewußt haben, daß er ihm ausweichen würde. Er war eine Warnung gewesen, mehr nicht. Hätten sie ihn oder Gowenna töten wollen, hätten sie es gekonnt.
Nach einer Weile teilte sich die schweigende Reihe über ihnen, und eine riesige, in mattglänzendes schwarzes Leder gekleidete Gestalt erschien zwischen den Kriegern. Der Satai...
Es hätte nicht einmal des TschekaJ an seiner Seite bedurft, um Skar zu zeigen, was für einen Mann er vor sich hatte. Jede seiner Bewegungen, seine Art zu gehen, seine Waffen zu tragen, selbst die Haltung, in der er schließlich stehenblieb und schweigend zu ihm hinuntersah, schrie ihm die Wahrheit entgegen. Und deutlich spürte er, daß es dem anderen genauso erging. An Skars Äußerem war nichts mehr von einem Satai; er war zerschunden, verdreckt und erschöpft, ein verwundeter kranker Mann in zerschlissenen Lumpen, und trotzdem meinte Skar den Haß zu fühlen, der in den Augen des anderen brannte. Nicht der heiße, lodernde Haß, der Gowenna verzehrte, sondern der kalte, berechnende Wille zum Töten. Das Gesicht des anderen war vollkommen hinter seinem schwarzen, durchbrochenen Visier verborgen, aber Skar mußte seine Züge nicht sehen, um den Ausdruck darauf zu erkennen.