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Er richtete sich auf, schloß die Augen und atmete ein paarmal hintereinander hörbar ein und aus. Seine Hand berührte die Stelle über seiner Brust, an der der Beutel gehangen hatte, der Beutel mit seinem Leben. Er empfand nichts. Seine Brust war leer. Mit einem Male war er sich der Schwäche bewußt, die von ihm Besitz ergriffen hatte. Seine Knie begannen zu zittern, und seine Arme schienen plötzlich Zentner zu wiegen, tote, nutzlose Gewichte, die ihn unbarmherzig zu Boden zerrten.

Er lauschte in sich hinein, aber auch in seiner Seele war nichts außer dieser gewaltigen, schmerzenden Leere. Sein dunkler Bruder war verstummt. Was war es gewesen, das ihn geweckt hatte? Der Stein? War dies das Geheimnis des Steines? Keine Magie, keine göttlichen Blitze, keine Zauberkräfte, sondern nur die Fähigkeit, die finstere Seite der menschlichen Seele zu wecken? War das, was er seinen dunklen Bruder nannte, vielleicht gar nichts Fremdes? Nicht Teil einer anderen Welt, den er aus der Nonakesh mitgebracht hatte, sondern etwas, das in jedem Menschen schlummerte, eine unbezwingbare, böse Kraft, die nur darauf wartete, geweckt zu werden - vom Stein der Macht geweckt zu werden?

Ich werde es herausfinden, dachte er. Aber dann fiel ihm ein, daß er nicht mehr die Zeit dafür hatte, daß er sterben würde, morgen, vielleicht schon heute, daß das Gift in seinen Adern unbarmherzig seine Arbeit tat und er jetzt keine Möglichkeit mehr hatte, es aufzuhalten. Der Gedanke an seinen Tod schreckte ihn mehr, als er zugeben wollte.

Eine Hand berührte ihn an der Schulter. Er drehte müde den Kopf und sah ins Gesicht eines Sumpfmannes. Seine Kleider schwelten, gestreift vom tödlichen Hauch des Drachenatems, aber er schein unverletzt zu sein.

»Gowenna«, sagte er.

Skar blickte an dem Sumpfmann vorbei zu Gowenna. Sie lebte, und sie war bei Bewußtsein. Sie saß halb aufgerichtet, den Oberkörper im Schoß des anderen Sumpfmannes gebettet, die Hand auf das Gesicht gepreßt. Zwischen ihren Fingern quoll dunkelrotes, zähflüssiges Blut hervor.

Skar nickte, ging an El-tra vorbei und ließ sich neben Gowenna auf ein Knie herabsinken. Sie drehte mühsam den Kopf, und Skar begriff, was für unerträgliche Schmerzen sie erleiden mußte. Aber ihm fehlte die Kraft, Mitleid zu empfinden.

Trotzdem erschrak er, als sie die Hand herunternahm und er ihr Gesicht sah. Die rechte Gesichtshälfte war unversehrt, schön wie zuvor, trotz der Qual, die ihre Züge verzerrte. Ihre linke Seite aber war eine einzige schreckliche Wunde. Das Fleisch war zerfurcht, zerfressen, als wäre es mit Säure übergössen worden. Es war eine Wunde, die nie wieder heilen würde. Vielleicht würde sie es überleben, aber sie würde vom heutigen Tage an wirklich eine Maske tragen, Engel und Teufel zugleich, eine grausige Verschmelzung von Leben und Tod, strahlender, unversehrter Schönheit auf der einen und schwärender Fäulnis auf der anderen Seite. Das linke Auge war blind.

»Wie lange wußtest du es schon?« fragte Skar.

Gowenna atmete mühsam ein. Ihr Körper bebte unter einem Krampt. »Seit... ich die Drachenspuren ... sah«, antwortete sie. Ihre Stimme klang brüchig vor Schmerz. »Nicht eher. Aber ich ... ich wollte es nicht glauben. Ist das nicht komisch, Skar? Ausgerechnet ich habe mich gegen das Offensichtliche gewehrt.« Eine einzelne, schimmernde Träne quoll aus ihrem Augenwinkel und hinterließ eine feuchtschimmernde Spur auf der Wange. »Ich habe sie geliebt, Skar«, fuhr sie fort. »Ich hätte mein Leben für sie gegeben, ein dutzendmal und mit Freuden. Aber sie hat mich betrogen.«

»Sie hat uns alle betrogen, Gowenna«, antwortete Skar sanft. Doch er spürte bereits in dem Moment, in dem er die Worte aussprach, wie hohl und leer sie klingen mußten, fast wie grausamer Spott.

Er setzte sich vollends, zog die Knie an den Körper und sah nach Osten. Combats Feuer loderte am Horizont und tauchte die Wolken in flackerndes blutiges Rot, und für einen winzigen Moment erschien es Skar, als bewege sich vor der brennenden Stadt ein noch winzigerer, noch grellerer Lichtpunkt, und in das Brüllen der Flammen schien sich ein neuer Ton zu mischen, ein helles, unendlich klagendes Geräusch, fast wie das Heulen eines Wolfes.

»Sie hat mich benutzt«, murmelte Gowenna. »Sie hat mich benutzt und weggeworfen, als ich meinen Dienst getan hatte.« Wieder brach sie ab, als koste es sie ihre ganze Kraft weiterzusprechen. »Wohin ... gehst du von hier aus, Satai?« fragte sie endlich. Skars Hand berührte die Stelle an seiner Brust, wo der Beutel gehangen hatte. »Nicht mehr sehr weit, Gowenna«, sagte er.

»Vergiß ... das Gift.«

Skar lächelte dünn. »Auch das werde ich tun, Gowenna. In ein paar Stunden.«

»Du wirst nicht sterben«, sagte sie leise. »Es war ... kein Gift. Nur ... der Extrakt einer seltenen Pflanze, der süchtig macht. Du wirst... Schmerzen haben und Fieber, aber du wirst... weiterleben.«

Skar nahm die Worte so ruhig hin, als gingen sie ihn nichts an. Er war leer, endgültig jetzt, ausgebrannt. Er hatte nicht mehr die Kraft, irgend etwas zu empfinden.

»Vielleicht«, murmelte er nach einer Weile, »nach Ikne. Ich muß Del suchen.«

»Dann reisen wir zusammen«, sagte Gowenna. Sie stockte, rang mühsam nach Atem und versuchte sich hochzustemmen, aber ihre Arme knickten unter dem Gewicht ihres Oberkörpers weg. Sie fiel, nicht zurück in den Schoß des Sumpfmannes, sondern nach vorne, so daß Skar sie auffangen mußte. Ihr Körper erschien ihm seltsam leicht, als hätte nicht nur ihre Kraft sie verlassen.

»Danke«, murmelte sie.

Skar lehnte sie behutsam gegen seine Schulter. Ihre Haut fühlte sich trocken und heiß an, fiebrig, und ein seltsames, neues und fast erschreckendes Gefühl durchströmte ihn für einen winzigen Moment, als er sie berührte. »Nicht reden«, flüsterte er. »Sei ganz ruhig jetzt.« Seine Hand glitt an ihrer Schulter empor, strich behutsam über ihre Wange und ihr Haar, und für endlose, lange Sekunden hielt er sie einfach schweigend in den Armen, drückte sie sanft wie ein Kind, dem er Trost spenden wollte, an sich. »Nicht reden«, sagte er noch einmal.

Aber Gowenna schien seine Worte gar nicht zu hören. »Bist du bereit, einen ... neuen Dienstherren anzunehmen?« fragte sie. Ihre Stimme war so leise, daß er sich herabbeugen mußte, um die Worte überhaupt zu verstehen.

»Dich?«

»Mich«, bestätigte sie. Ihr Atem ging schneller, unregelmäßiger, und für einen Moment durchfuhr Skar ein heißer, ungläubiger Schrecken, als er daran dachte, daß sie hier und jetzt in seinen Armen sterben könnte. Aber sie starb nicht, sondern redete leise und stockend und doch fest weiter: »Ich habe Geld, Skar. Es wird nicht reichen, den Preis eines Satai zu zahlen, aber es wird reichen, das Schiff des Freiseglers zu chartern. Er ist... der einzige, der uns zu ihr führen kann. Und ich kann dir etwas bieten, das mehr wiegt als Geld: Rache. Ich werde Vela suchen. Ich werde weiterleben, und ich werde sie finden, ganz egal, wo sie sich versteckt.« Wieder stockte sie, krallte die Hände in den glühenden, verbrannten Boden und atmete hörbar ein. Wieder wurde ihr Körper von Krämpfen geschüttelt, und wieder zuckte ihr Gesicht unter Schmerzen, die Skar sich nicht einmal vorzustellen wagte. Aber als sie weitersprach, schwang in ihrer Stimme ein neuer, entschlossener Ton mit, ein Gefühl von solcher Kälte und Entschlossenheit, daß Skar plötzlich fror. »Ich werde sie suchen, Skar«, sagte sie leise. »Und ich werde sie töten.«

ENDE DES ERSTEN BANDES