Die Bewohner der Himmelstraße hielten ihn für ein
bisschen verrückt. Grund dafür war ein Ereignis, über das
nur selten gesprochen wurde, das aber allgemein als die
»Jesse-Owens-Sache« bekannt war: Rudi hatte sich eines
Nachts mit Kohle schwarz angemalt und war ein einsames
100-Meter-Rennen auf dem hiesigen Sportplatz gelaufen.
Verrückt oder nicht, Rudi war dazu bestimmt, Liesels bester Freund zu werden. Und ein Schneeball im Gesicht ist der perfekte Beginn einer lebenslangen Freundschaft.
Ein paar Tage nachdem für Liesel die Schule angefangen hatte, trat sie mit den Steiner-Kindern den Schulweg an. Rudis Mutter, Barbara, nahm ihrem Sohn das Versprechen ab, das neue Mädchen zu begleiten, hauptsächlich weil sie von der Geschichte mit dem Schneeball gehört hatte. Es spricht für Rudi, dass er sofort damit einverstanden war. Er war kein jugendlicher Frauenhasser, ganz und gar nicht. Er mochte Mädchen, sehr sogar, und er mochte Liesel. (Daher auch der Schneeball.) Im Grunde genommen war Rudi Steiner einer dieser dreisten kleinen Kerle, die es genossen, von Weibern umschwärmt zu sein.
Eine jede Kindheit scheint ein solches Exemplar in ihrer Mitte und ihrem Dunstkreis zu haben. Er war der Junge, der sich weigerte, vor dem anderen Geschlecht Angst zu haben, gerade weil alle anderen sich zu Tode fürchteten, und er war der Typ, der sich nicht scheute, eine Entscheidung zu treffen. In Bezug auf Liesel Meminger hatte Rudi seine Entscheidung bereits gefällt.
Auf dem Weg zur Schule versuchte er, sie auf ein paar Besonderheiten der Stadt aufmerksam zu machen. Zumindest gelang es ihm, sie alle aufzuzählen, während er gleichzeitig seinen jüngeren Geschwistern befahl, gefälligst den Mund zu halten, und er selbst das Gleiche von seinen älteren Geschwistern zu hören bekam.
Sein erstes Objekt des Interesses war ein kleines Fenster im zweiten Stock eines Wohnhauses.
»Da wohnt der Tommi.« Er merkte, dass Liesel sich nicht an ihn erinnerte. »Der mit dem Zucken, weißt du noch? Als er fünf Jahre alt war, hat er sich am kältesten Tag des Jahres auf dem Markt verlaufen. Als man ihn drei Stunden später fand, war er eingefroren und hatte schlimme Ohrenschmerzen. Nach einer Weile haben sich seine Ohren innen ganz entzündet, und er musste sich drei, vier Mal operieren lassen. Dabei haben die Ärzte irgendwelche Nerven kaputtgemacht. Und deshalb zuckt er jetzt.«
»Und kann nicht Fußball spielen«, fügte Liesel hinzu.
»Überhaupt nicht.«
Als Nächstes kam der Eckladen am Ende der Himmelstraße. Frau Lindners Eckladen.
Sie hatte eine goldene Regel.
Frau Lindner war eine scharfkantige Frau mit dicken Brillengläsern und einem ruchlosen Blick. Sie hatte sich diesen Blick zugelegt, um jeden Gedanken an Diebstahl in ihrem Laden im Keim zu ersticken. Sie hütete ihr Geschäft mit einer soldatesken Haltung, einer unterkühlten Stimme, und selbst ihr Atem roch nach »Heil Hitler«. Der Laden selbst war im Innern weiß und kalt und völlig blutleer. Das kleine Haus, das an seine Seite gezwängt dastand, schien vor lauter Strenge zu erschauern. Frau Lindner selbst verströmte diesen Eindruck im Übermaß; er war das Einzige, was man in ihrem Geschäft umsonst bekam. Sie lebte für ihren Laden, und ihr Laden lebte für das Dritte Reich. Als später im Jahr die Lebensmittel rationiert wurden, war es ein offenes Geheimnis, dass sie bestimmte Waren, die schwer zu bekommen waren, unter der Hand verkaufte und das Geld der Partei spendete. An der Wand hinter ihrem Sitzplatz, den sie für gewöhnlich einnahm, hing ein gerahmtes Bild des Führers. Wenn man ihren Laden betrat und nicht »Heil Hitler« sagte, wurde man nicht bedient.
Als sie vorbeigingen, lenkte Rudi Liesels Aufmerksamkeit auf die stark vergrößerten Augen hinter den dicken Brillengläsern, die sie durch das Ladenfenster anfunkelten.
»Sag ›Heil‹, wenn du da reingehst«, wies er sie an. »Es sei denn, du willst woanders einkaufen.« Als sie das Geschäft schon weit hinter sich gelassen hatten, schaute sich Liesel noch einmal um und sah, dass die kugelsicheren Augen immer noch da waren, wie festgeklebt am Schaufenster.
Sie bogen um die Ecke in die Münchener Straße, die Hauptstraße, die nach Molching hinein und wieder heraus führte. Sie war mit Schneematsch zugekleistert.
Wie so oft kamen ein paar Reihen von Soldaten anmarschiert, die eine Übung absolvierten. Ihre Uniformen gingen aufrecht, und ihre schwarzen Stiefel verunreinigten den Schnee zusätzlich. Ihre Gesichter waren konzentriert geradeaus gerichtet.
Sie schauten den Soldaten nach, bis diese verschwunden waren. Dann gingen Liesel und die Steiner-Kinder an ein paar Schaufenstern vorbei und an dem imposanten Rathaus, das in späteren Jahren von den Füßen gefegt und untergepflügt werden würde. Ein paar der Läden waren verlassen und trugen noch den gelben Stern und judenfeindliche Schmähungen. Weiter unten an der Straße reckte sich die Kirche himmelwärts, ihr Dach ein kunstvolles Ziegelarrangement. Die gesamte Straße war eine lang gestreckte Röhre aus reinem Grau – ein Korridor aus Feuchtigkeit, Menschen, die durch die Kälte stapften, und dem platschenden Geräusch wässriger Schritte.
Plötzlich rannte Rudi los und zog Liesel mit sich.
Er klopfte an das Fenster einer Schneiderei.
Wenn Liesel in der Lage gewesen wäre, das Schild zu lesen, hätte sie erkannt, dass der Laden Rudis Vater gehörte. Das Geschäft war noch nicht geöffnet, aber drinnen breitete ein Mann Kleidungsstücke auf der Verkaufstheke aus. Er schaute hoch und winkte.
»Mein Papa«, erklärte ihr Rudi, und schon bald waren sie von einer Schar unterschiedlich hoch gewachsener Steiner-Sprösslinge umgeben, die alle winkten oder ihrem Vater Handküsse zuwarfen oder – was die Älteren anbelangte – einfach nur dastanden und grüßend nickten. Dann gingen sie weiter, zu dem letzten bemerkenswerten Ort, bevor man die Schule erreichte.
Die Straße der gelben Sterne
Es war ein Ort, an dem niemand bleiben, den niemand anschauen wollte, aber fast jeder tat es trotzdem. Wie ein langer, gebrochener Arm krümmte sich die Straße vor ihnen, und sie war von etlichen Häusern mit Fenstern wie klaffende Wunden und zerschlagenen Wänden gesäumt. Auf den Türen prangte der Davidsstern.
Diese Häuser waren wie Aussätzige, wie entzündete Wunden auf dem verletzten deutschen Boden.
»Schillerstraße«, verkündete Rudi. »Die Straße der gelben Sterne.«
Am Fuß der Straße waren ein paar Leute zu sehen. Durch den Nieselregen wirkten sie wie Geister. Keine Menschen, sondern Schemen gingen dort unter den bleifarbenen Wolken.
»Kommt schon, ihr zwei«, rief Kurt, der Älteste der Steiner-Kinder, ihnen zu, und Rudi und Liesel gingen schnell weiter.
In der Schule suchte Rudi in den Pausen Liesels Nähe. Es war ihm egal, dass die anderen sich über die Dummheit des neuen Mädchens lustig machten. Er war für sie da, von Anfang an, und er war auch später noch da, als Liesels Wut überkochte. Aber er tat es nicht umsonst.
Ein Junge, der dich liebt.
Als sie eines Tages Ende April aus der Schule kamen, warteten Rudi und Liesel in der Himmelstraße auf ihr tägliches Fußballspiel. Sie waren ein bisschen zu früh dran, und die anderen waren noch nicht da.
Die einzige Person, die auf der Straße auftauchte, war dieses Schandmaul Pfiffikus.