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»Weißt du noch, als ich mich beim Fußballspielen verletzt habe?«, fragte sie. »Auf der Straße?«

Es dauerte etwa eine Dreiviertelstunde, bis sie die Geschichte von zwei Kriegen, einem Akkordeon, einem jüdischen Faustkämpfer und einem Keller erzählt hatte. Nicht zu vergessen, was vor vier Tagen auf der Münchener Straße geschehen war.

»Das ist der Grund, warum du damals so nahe herangegangen bist«, sagte Rudi, »als wir das Brot dabeihatten. Du wolltest nachschauen, ob er dabei ist.«

»Ja.«

»Herr im Himmel.«

»Ja.«

Die Bäume waren hoch und dreieckig. Sie waren still.

Liesel zog Die Worteschüttlerin aus ihrer Tasche und zeigte Rudi eine der Seiten. Auf ihr war ein Junge mit drei Medaillen um den Hals zu sehen.

»Haare wie Zitronen«, las Rudi. Seine Finger berührten die Worte. »Du hast ihm von mir erzählt?«

Zunächst konnte Liesel nicht sprechen. Vielleicht war es die unvermittelte Holprigkeit der Liebe, die sie für ihn empfand. Oder hatte sie ihn schon immer geliebt? Höchstwahrscheinlich. So unmöglich ihr in diesem Moment die Worte waren, so sehr wünschte sie sich, dass er sie küssen möge. Sie wünschte, er würde ihre Hand nehmen und sie zu sich ziehen. Sie küssen. Egal wohin. Auf den Mund, ihren Nacken, ihre Wange. Ihre Haut war leer, unbesetzt, erwartungsvoll.

Vor Jahren, als sie sich auf dem schlammigen Sportplatz ein Wettrennen geliefert hatten, war Rudi ein hastig zusammengewürfelter Haufen Knochen gewesen, mit einem zerklüfteten, kantigen Lächeln. An diesem Nachmittag zwischen den Bäumen war er ein Schenkender, der Brot und Teddybären verteilte. Er war ein dreifacher Sieger. Er war ihr bester Freund. Und er war noch einen Monat von seinem Tod entfernt.

»Natürlich habe ich ihm von dir erzählt«, sagte Liesel.

Sie sagte Lebewohl, ohne es zu wissen.

ILSA HERMANNS KLEINES SCHWARZES BUCH

Mitte August wollte sie aus dem üblichen Grund zur Großen Straße 8 gehen.

Um sich aufzuheitern.

Das glaubte sie jedenfalls.

Der Tag war heiß gewesen, aber für den Nachmittag waren Schauer angekündigt. Als Liesel an Frau Lindners Eckladen vorbeiging, musste sie an eine Passage aus Die letzte menschliche Fremde denken, kurz vor Ende des Buches.

DIE LETZTE MENSCHLICHE FREMDE, SEITE 211

Die Sonne rührt die Erde um.

Immer im Kreis, so rührt sie uns, wie einen Eintopf.

Zu diesem Zeitpunkt kam Liesel die Stelle nur in den Sinn, weil es so warm war.

Auf der Münchener Straße erinnerte sie sich an das Ereignis, das vorige Woche hier stattgefunden hatte. Sie sah die Juden die Straße entlangkommen, sah ihre Ströme, ihre Nummern und ihren Schmerz. Sie entschied, dass in dem Zitat ein Wort fehlte.

Die Welt ist ein grässlicher Eintopf, dachte sie.

Sie ist so grässlich, dass ich sie nicht ertragen kann. Liesel überquerte die Brücke. Die Amper war wundervoll, smaragdgrün und klar. Sie konnte die Steine auf dem Grund sehen und hörte das vertraute Lied des Wassers. Die Welt verdiente einen solchen Fluss gar nicht.

Sie erstieg den Hügel zur Großen Straße. Die Häuser waren hübsch und verabscheuungswürdig. Sie genoss den kleinen Schmerz in ihren Waden und ihrer Lunge. Geh schneller, dachte sie, und sie erhob sich, wie ein Ungeheuer aus dem Sand. Sie roch das Gras der Nachbarschaft. Es war frisch und süß, grün mit gelben Spitzen. Sie überquerte den Hof, ohne den Kopf auch nur ein Mal zur Seite zu drehen, ohne jedes ängstliche Zögern.

Das Fenster.

Hände auf dem Rahmen. Die Schere der Beine.

Aufkommende Füße.

Bücher und Seiten und ein glücklicher Ort.

Sie zog ein Buch aus dem Regal und setzte sich damit auf den Fußboden.

Ist sie zu Hause?, fragte sie sich, aber es kümmerte sie nicht, ob Ilsa Hermann in der Küche Kartoffeln schälte oder auf dem Postamt in der Schlange stand. Oder wie ein Geist über ihr schwebte und betrachtete, was das Mädchen las.

Das Mädchen scherte sich nicht mehr darum.

Lange Zeit saß sie da und las.

Sie hatte ihren Bruder sterben sehen, mit einem wachen Auge und einem, das noch im Traum gefangen war. Sie hatte ihrer Mutter Lebewohl gesagt und in Gedanken ihren einsamen Marsch zurück zum Bahnhof gesehen, nach Hause in die Vergessenheit. Eine Frau aus Draht hatte sich hingelegt, während ihr Schrei durch die Straße lief, bis er zur Seite fiel, wie eine rollende Münze, die an Schwung verliert. Ein junger Mann hing an einem Seil aus Stalingrader Schnee. Sie hatte einen Bomberpiloten in einem Metallkasten sterben sehen. Sie hatte erlebt, wie ein Jude, der ihr zwei Mal die schönsten Seiten ihres Lebens geschenkt hatte, in ein Konzentrationslager getrieben worden war. Und im Zentrum all dessen sah sie den Führer, der seine Worte brüllte und sie herumreichte.

Diese Bilder waren die Welt, und es brodelte in ihr, während sie inmitten der schönen Bücher mit ihren manikürten Titeln saß. Es kochte in ihr, während sie die Seiten anschaute, die bis zum Erbrechen voll mit Absätzen und Worten waren.

Ihr Mistkerle, dachte sie.

Ihr geliebten Mistkerle.

Macht mich nicht glücklich. Bitte erfüllt mich nicht. Lasst mich nicht glauben, dass aus all dem etwas Gutes entstehen kann. Schaut euch meine Wunden an. Seht ihr diesen Schnitt? Seht ihr den Schnitt in meinem Innern? Seht ihr, wie er vor euren Augen wächst und mich auswäscht? Ich will auf nichts mehr hoffen. Ich will nicht beten, dass Max am Leben und in Sicherheit ist. Oder Alex Steiner.

Denn die Welt verdient sie nicht.

Sie riss eine Seite aus dem Buch und zerpflückte sie.

Dann ein Kapitel.

Schon bald lagen zwischen ihren Beinen und um sie herum Wortfetzen. Worte. Warum musste es sie geben? Ohne sie wäre nichts hiervon wirklich. Ohne Worte wäre der Führer ein Niemand. Es würde keine humpelnden Gefangenen geben, keinen Grund für Trost oder weltliche Raffinessen, auf dass es uns wieder besser gehe.

Wozu waren die Worte gut?

Dann sagte sie es laut, in dem orange glühenden Raum. »Wozu sind Worte gut?«

Die Bücherdiebin stand auf und ging vorsichtig zur Tür der Bibliothek. Der Protest der Scharniere war halbherzig, nicht der Rede wert. Der luftige Korridor war durchdrungen von hölzerner Leere.

»Frau Hermann?«

Die Frage fiel auf sie zurück und wurde wieder weggestoßen, in Richtung der Eingangstür. Sie schaffte es nicht bis dorthin, sondern landete schwach auf den dicken Holzdielen.

»Frau Hermann?«

Nichts als Stille begrüßte ihre Rufe, und sie überlegte, ob sie in der Küche nachsehen sollte, um Rudis willen. Sie hielt sich zurück. Es wäre nicht richtig, Lebensmittel von einer Frau zu stehlen, die für sie ein Wörterbuch an den Fensterrahmen gelehnt hatte. Außerdem hatte sie gerade eines ihrer Bücher zerstört, Seite für Seite, Kapitel für Kapitel. Sie hatte bereits genug Schaden angerichtet.

Liesel kehrte in die Bibliothek zurück und öffnete eine Schreibtischschublade. Sie setzte sich hin.

DER LETZTE BRIEF

Liebe Frau Hermann,

wie Sie sehen, war ich wieder in Ihrer Bibliothek und habe eines Ihrer Bücher kaputtgemacht. Ich war einfach so wütend und so verängstigt, und ich wollte die Worte zum Schweigen bringen. Ich habe von Ihnen gestohlen, und jetzt habe ich Ihr Eigentum zerstört. Es tut mir leid. Als Strafe für mich selbst habe ich beschlossen, nicht wieder herzukommen. Aber ist das überhaupt eine Strafe? Ich liebe diesen Ort, und ich hasse ihn auch, weil er voller Worte ist.