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Akkordeon dabei und saß ungefähr da, wo Max immer

gesessen hat. Ich betrachte oft seine Finger und sein Gesicht,

wenn er spielt. Das Akkordeon atmet. Auf Papas Wangen

sind Falten. Sie sehen aus wie aufgemalt, und aus

irgendeinem Grund möchte ich am liebsten weinen, wenn

ich sie sehe. Nicht aus Trauer oder Stolz. Ich mag einfach die

Art, wie sie sich bewegen und sich verändern. Manchmal

denke ich, mein Papa ist ein Akkordeon. Wenn er mich

anschaut und lächelt und atmet, dann höre ich die Musik.

Nach zehn Nächten des Schreibens wurde München wieder bombardiert. Liesel war auf Seite 102 und schlief im Keller. Sie hörte weder den Kuckuck noch die Sirenen, und sie hielt das Buch im Schlaf fest, als Papa kam und sie weckte. »Liesel, komm.« Sie nahm Die Bücherdiebin und ihre anderen Bücher, und gemeinsam holten sie Frau Holzinger.

SEITE 175

Ein Buch trieb die Amper hinab.

Ein Junge sprang ins Wasser, watete darauf zu und packte es

mit der rechten Hand. Er grinste. Bis zur Hüfte stand er im

eisigen Dezemberwasser.

»Wie wär’s mit einem Kuss, Saumensch?«

Beim nächsten Luftangriff am 2. Oktober war sie fertig. Nur ein paar Dutzend Seiten waren leer geblieben, und die Bücherdiebin hatte bereits angefangen, das Geschriebene noch einmal durchzulesen. Das Buch war in zehn Abschnitte unterteilt, die alle mit den Titeln von Büchern oder Geschichten überschrieben waren und erzählten, wie diese Bücher und Geschichten ihr Leben geprägt hatten.

Oft frage ich mich, auf welcher Seite sie gerade war, als ich ein paar Nächte später im strömenden Regen durch die Himmelstraße ging. Ich frage mich, was sie gerade las, als die erste Bombe aus dem Bauch eines Flugzeuges fiel.

Ich stelle mir vor, wie sie kurz auf die Wand schaut, auf Max Vandenburgs seiltanzende Wolke, auf die baumelnde Sonne und auf die Gestalten, die darauf zugehen. Dann betrachtet sie die mühevollen Rechtschreibübungen, aufgemalt mit Wandfarbe. Ich sehe den Führer die Kellertreppe hinunterkommen, die Boxhandschuhe lässig um den Nacken gebunden. Und die Bücherdiebin liest und liest wieder und wieder ihren letzten Satz, viele Stunden lang.

DIE BÜCHERDIEBIN – LETZTER SATZ

Ich habe die Worte gehasst, und ich habe sie geliebt, und

ich hoffe, ich habe sie richtig gemacht.

Draußen pfiff die Welt. Der Regen war fleckig.

DER WELTUNTERGANG (Teil 2)

Fast alle Worte sind nun verblasst. Das schwarze Buch löst sich unter dem Gewicht meiner Reisen langsam auf. Das ist ein weiterer Grund, warum ich diese Geschichte erzähle. Wie war das doch gleich? Wenn man etwas oft genug sagt, vergisst man es nicht mehr. Außerdem kann ich euch erzählen, was geschah, nachdem die Worte der Bücherdiebin verklungen waren, und wie ich überhaupt von ihrer Geschichte erfuhr. Das kam so.

Stellt euch vor, ihr geht im Dunkeln durch die Himmelstraße. Euer Haar wird nass, und der Druck der Luft steht kurz vor dem Zerplatzen. Die erste Bombe trifft das Mietshaus, in dem Tommi Müller wohnt. Sein Gesicht zuckt unschuldig im Schlaf, und ich knie neben seinem Bett. Als Nächstes seine Schwester. Kristinas Füße gucken unter der Bettdecke hervor. Sie passen zu den Fußabdrücken in dem Himmel-und-Hölle-Spielfeld auf der Straße. Ihre kleinen Zehen. Die Mutter schläft ein paar Meter neben ihnen. Vier Zigaretten liegen verkrümmt im Aschenbecher, und der dachlose Raum ist glühend rot. Die Himmelstraße brennt.

Da fangen die Sirenen an zu heulen.

»Zu spät«, flüstere ich, »das könnt ihr euch jetzt sparen.« Denn alle haben sich zum Narren halten lassen, einmal und noch einmal. Zunächst hatten die Alliierten einen Angriff auf München vorgetäuscht, um stattdessen Stuttgart anzugreifen. Aber dann waren zehn Flugzeuge zurückgeblieben. Oh, es gab Warnungen, sicher. Aber in Molching kamen sie gleichzeitig mit den Bomben an.

EINE LISTE VON STRASSEN

Münchener Straße, Ellenberger Straße, Johannsonstraße,

Himmelstraße. Die Hauptstraße und noch drei weitere in

dem ärmlicheren Teil der Stadt.

Innerhalb weniger Minuten waren sie alle weg.

Eine Kirche wurde niedergeschlagen.

Die Erde, auf der Max Vandenburg mit seinen Füßen gestanden hatte, wurde untergepflügt.

In der Himmelstraße 31 schien mich Frau Holzinger in der Küche zu erwarten. Vor ihr stand eine zerbrochene Tasse, und im letzten wachen Moment hatte ihr Gesicht einen Ausdruck angenommen, der mich zu fragen schien, wo ich bloß so lange geblieben war.

Im Gegensatz dazu schlief Frau Lindner tief und fest. Ihre kugelsicheren Brillengläser zersprangen neben ihrem Bett. Ihr Laden wurde ausgelöscht; die Verkaufstheke landete auf der anderen Straßenseite, und das gerahmte Bild des Führers wurde von der Wand gerissen und zu Boden geworfen. Der Mann wurde zu einem glasigen Brei zusammengeschlagen. Auf dem Weg nach draußen trat ich auf ihn.

Die Fiedlers lagen ordentlich zugedeckt im Bett.

Von Pfiffikus war nur die Nasenspitze zu sehen.

Alle Steiners. Ich fuhr mit den Fingern durch Barbaras schönes, gekämmtes Haar. Ich nahm den ernsthaften Blick aus Kurts ernsthaft schlafendem Gesicht und küsste die Kleinen, eines nach dem anderen.

Dann Rudi.

Herr im Himmel, Rudi …

Er lag im Bett mit einer seiner Schwestern. Sie hatte ihn wohl getreten oder ihn zur Seite geschoben, um mehr Platz zu haben, denn er lag auf der Kante und hatte die Arme um sie geschlungen. Der Junge schlief. Sein Kerzenhaar entzündete das Bett, und ich hob ihn und Bettina auf, während ihre Seelen noch unter der Decke lagen. Sie starben wenigstens schnell und voller Wärme. Der Junge im Flugzeug, dachte ich. Der mit dem Teddybären. Wo war Rudis Trost? Wo war jemand, der diesem Lebensraub die Schärfe nahm? Wer war da, um ihn zu wiegen, während der Teppich des Lebens unter seinen Füßen weggezogen wurde?

Niemand.

Nur ich.

Und ich kann nicht besonders gut trösten, erst recht nicht, wenn meine Hände kalt sind, und das Bett ist warm. Ich trug ihn sanft durch die zerschmetterte Straße, mit einem salzigen Auge und einem schweren, tödlichen Herzen. Bei ihm gab ich mir ein bisschen mehr Mühe. Einen Augenblick lang betrachtete ich den Inhalt seiner Seele und sah einen schwarz angemalten Jungen, der »Jesse Owens« rief, während er durch ein eingebildetes Zielband lief. Ich sah ihn bis zur Hüfte in eiskaltem Wasser stehen und nach einem Buch angeln, und ich sah einen Jungen im Bett liegen und sich vorstellen, wie ein Kuss von den herrlichen Lippen der Nachbarin schmecken würde. Er stellt etwas mit mir an, dieser Junge. Jedes Mal. Das ist sein einziges Vergehen. Er tritt mir aufs Herz. Er bringt mich zum Weinen.

Schließlich die Hubermanns.

Hans.

Papa.

Er lag lang im Bett, und ich konnte das Silber durch seine Augenlider schimmern sehen. Seine Seele saß aufrecht da. Sie kam mir entgegen. Diese Art Seelen tun das – die besten von ihnen. Diejenigen, die sich erheben und sagen: »Ich weiß, wer du bist, und ich bin bereit. Nicht dass ich gehen möchte, natürlich nicht, aber ich werde mitkommen.« Diese Seelen sind immer leicht, denn das meiste von ihnen ist ausgelöscht. Der größte Teil von ihnen hat bereits den Weg zu anderen Orten gefunden. Diese hier wurde hinausgeschickt durch den Atem eines Akkordeons, durch den merkwürdigen Geschmack von Champagner im Sommer und durch die Kunst, ein Versprechen zu halten. Er lag in meinen Armen und ruhte. Ich spürte ein kitzelndes Verlangen nach einer letzten Zigarette und den starken, fast magnetischen Drang hin zum Keller, zu dem Mädchen, das seine Tochter war und das dort ein Buch schrieb, von dem er hoffte, es eines Tages zu lesen.