Выбрать главу

Liesel.

Seine Seele flüsterte ihren Namen, während ich ihn forttrug. Aber in diesem Haus gab es keine Liesel. Jedenfalls nicht für mich.

Für mich war nur eine Rosa da, und ja, ich glaube tatsächlich, dass ich sie mitten im Schnarchen hochhob, denn ihr Mund war halb geöffnet, und ihre rosafarbenen Papierlippen waren mitten in der Bewegung verharrt. Wenn sie mich gesehen hätte, hätte sie mich vermutlich »Saukerl« genannt, und ich hätte es ihr nicht übel genommen. Später, nachdem ich Die Bücherdiebin gelesen hatte, wusste ich, dass sie jeden so nannte. Saukerl. Saumensch. Besonders diejenigen, die sie liebte. Ihr elastisches Haar war gelöst. Es rieb gegen das Kissen, und ihr schrankförmiger Körper hatte sich mit dem Schlag ihres Herzens gehoben. Und seid versichert, diese Frau hatte tatsächlich ein Herz, und zwar ein größeres, als die meisten Leute vermutet hätten. Da war eine Menge drin, aufgestapelt, meterhoch auf verborgenen Regalen. Erinnert euch, dass sie die Frau war, die mit dem Akkordeon am Körper in jenen langen Mondspaltennächten auf dem Bett gesessen hatte. Sie war die Frau, die einen Juden durchgefüttert hatte, ohne auch nur eine einzige Frage zu stellen, nicht in der ersten Nacht und auch nicht danach. Und sie war eine Frau, die mit ausgestrecktem Arm tief in eine Matratze hineingegriffen hatte, um einem jungen Mädchen ein Skizzenbuch zu geben.

DAS LETZTE GLÜCK

Ich ging von einer Straße zur anderen und kehrte wegen

eines einzigen Mannes namens Schultz noch einmal in die

Himmelstraße zurück.

Er hatte es in dem zusammengefallenen Haus nicht aushalten können, und ich trug seine Seele die Himmelstraße entlang, als ich bemerkte, wie die Männer von der LSE anfingen zu schreien und zu lachen.

In dem Berg aus Schutt war ein kleines Tal.

Der heiße Himmel war rot und kreiselte um sich selbst. Pfefferstreifen dehnten sich aus, und ich wurde neugierig. Ja, ja, ich weiß, was ich euch am Anfang gesagt habe. Normalerweise führt meine Neugier dazu, dass ich Zeuge eines wie auch immer gearteten menschlichen Aufschreis werde, aber bei dieser Gelegenheit muss ich sagen, dass ich froh war – und es immer noch bin, froh, dass ich dabei war, obwohl es mir das Herz brach.

Es stimmt, sie fing an zu heulen und nach Hans Hubermann zu schreien, als man sie herauszog. Die Männer der LSE versuchten, sie mit ihren staubigen Armen festzuhalten, aber die Bücherdiebin konnte sich losreißen. Verzweifelten Menschen scheint das recht oft zu gelingen.

Sie wusste nicht, wohin sie rannte, denn die Himmelstraße gab es nicht mehr. Alles war neu und apokalyptisch. Warum war der Himmel rot? Schneite es tatsächlich? Und warum verbrannten die Schneeflocken ihr die Arme?

Liesel verlangsamte ihre Schritte zu einem taumelnden Gang und konzentrierte sich auf das, was vor ihr lag.

Wo ist Frau Lindners Eckladen?, fragte sie sich. Wo ist...?

Sie wanderte noch ein Stückchen weiter, bis der Mann, der sie gefunden hatte, ihren Arm nahm und auf sie einredete: »Du hast einen Schock, Mädchen. Es ist nur ein Schock, bald wird es dir besser gehen.«

»Was ist passiert?«, fragte Liesel. »Ist dies hier die Himmelstraße?«

»Ja.« Der Mann hatte enttäuschte Augen. Was hatte er in den letzten Jahren alles gesehen? »Das ist die Himmelstraße. Du bist ausgebombt worden, Mädchen. Es tut mir so leid, Liebes.«

Ihr Mund wanderte weiter, obwohl ihr Körper nun stillstand. Sie hatte ihr Geheul nach Hans Hubermann vergessen. Das war Jahre her – das war das Werk der Bomben. Sie sagte: »Wir müssen zu meinem Papa und meiner Mama. Wir müssen Max aus dem Keller holen. Wenn er nicht im Keller ist, ist er im Flur und schaut aus dem Fenster. Das macht er manchmal bei einem Luftangriff – er kriegt den Himmel nicht oft zu sehen, wissen Sie? Ich muss ihm sagen, wie das Wetter jetzt ist. Er wird mir das nicht glauben...«

Ihr Körper gab nach, und der Mann von der LSE fing sie auf und setzte sie nieder. »Wir bringen sie gleich weg«, erklärte er seinem Unteroffizier. Die Bücherdiebin bemerkte etwas Schweres, Schmerzendes in ihrer Hand und schaute nach.

Das Buch.

Die Worte.

Ihre Finger bluteten, genau wie an dem Tag, an dem sie hier angekommen war.

Der Mann von der LSE half ihr auf die Füße und wollte sie wegführen. Ein Holzlöffel brannte. Ein Mann ging mit einem zerbrochenen Akkordeonkasten vorbei, und Liesel konnte das Instrument im Innern sehen. Sie sah die weißen Zähne und die schwarzen Noten dazwischen. Sie lächelten sie an und brachten Liesel in die Wirklichkeit zurück. Wir sind ausgebombt worden, dachte sie, und sie wandte sich zu dem Mann an ihrer Seite. »Das Akkordeon gehört meinem Papa.« Noch einmal. »Das Akkordeon gehört meinem Papa.«

»Hab keine Angst, Mädchen, du bist in Sicherheit. Nur noch ein kleines Stück weiter.«

Aber Liesel ging nicht weiter.

Sie schaute dorthin, wo der Mann das Akkordeon hinbrachte, und folgte ihm. Während der rote Himmel noch immer die wunderschöne Asche zerstreute, hielt sie den groß gewachsenen Arbeiter der LSE an und sagte: »Ich kann Ihnen das gerne abnehmen – es gehört meinem Papa.« Sanft nahm sie dem Mann den Kasten aus der Hand und wollte ihn wegtragen. Und in diesem Moment sah sie den ersten Leichnam.

Der Akkordeonkasten fiel ihr aus der Hand. Der Klang einer Explosion.

Frau Holzinger lag mit abgespreizten Gliedern auf dem Boden.

DIE NÄCHSTEN ZWÖLF STUNDEN IN LIESEL MEMINGERS LEBEN

Sie dreht sich auf dem Absatz herum und schaut den

zersplitterten Kanal entlang, der einst die Himmelstraße

gewesen war. Sie sieht zwei Männer einen Körper tragen,

und sie folgt ihnen.

Als sie die anderen sah, musste sie husten. Sie lauschte einen Moment, während einer der Männer den anderen erzählte, dass sie eine der Leichen in Stücke zerfetzt gefunden hatten, in einem Ahornbaum.

Erschlagene Schlafanzüge und zerrissene Gesichter. Es war das Haar des Jungen, das sie zuerst sah.

Rudi?

»Rudi?«

Er lag da, mit gelben Haaren und geschlossenen Lippen. Die Bücherdiebin rannte zu ihm und fiel hin. Sie ließ das schwarze Buch los. »Rudi«, schluchzte sie, »wach auf...« Sie packte ihn am Schlafanzug und schüttelte ihn leicht, ungläubig. »Wach auf, Rudi«, und jetzt, während der Himmel die Erde weiter aufheizte und mit Asche bestäubte, hielt Liesel Rudi Steiners Schlafanzugjacke mit beiden Händen. »Rudi, bitte.« Die Tränen hakten sich an ihrem Gesicht fest. »Rudi, bitte, wach auf. Verdammt nochmal, wach auf. Ich liebe dich doch. Komm schon, Rudi, komm schon, Jesse Owens, weißt du denn nicht, dass ich dich liebe, wach auf, wach auf, wach auf...«

Aber die Welt kümmerte es nicht.

Der Schutt häufte sich noch höher auf. Zementhügel mit roten Gipfeln. Ein wunderschönes, tränenzerrüttetes Mädchen, das die Toten schüttelt.