»Komm schon, Jesse Owens...«
Aber der Junge wachte nicht auf.
Ungläubig vergrub Liesel den Kopf an Rudis Brust. Sie hielt seinen schlaffen Körper fest und versuchte zu vermeiden, dass er nach hinten rutschte, bis sie ihn schließlich doch auf dem geschlachteten Boden niederlassen musste. Sie tat es sanft.
Langsam, langsam.
»Lieber Gott, Rudi...«
Sie beugte sich vor und schaute in sein lebloses Gesicht. Liesel küsste ihren besten Freund, Rudi Steiner, behutsam und wahrhaftig, auf seine Lippen. Er schmeckte staubig und süß. Er schmeckte nach dem Bedauern im Schatten der Bäume und im Schimmer der Anzugsammlung des Anarchisten. Sie küsste ihn lang und sanft, und als sie sich zurückzog, berührte sie seinen Mund mit den Fingern. Ihre Hände zitterten. Ihre Lippen waren plump, und noch ein Mal beugte sie sich vor. Diesmal verlor sie die Beherrschung und verschätzte sich in der Distanz. Ihrer beider Zähne prallten in der entleibten Welt der Himmelstraße aufeinander.
Sie sagte kein Lebewohl. Dazu war sie nicht in der Lage. Nach ein paar Minuten an seiner Seite schaffte sie es, sich von der Erde loszureißen. Es erstaunt mich immer wieder, wozu Menschen fähig sind, selbst wenn die Ströme über ihre Gesichter fließen und sie weitertaumeln, hustend und suchend und findend.
Die Körper von Mama und Papa,
die verdreht auf dem knirschenden Bett
der Himmelstraße liegen.
Sie lief nicht, und sie rannte auch nicht. Liesel bewegte sich überhaupt nicht. Ihre Augen waren über die Menschen hinweggescheuert und hielten inne, als sie mit verschwommenem Blick den hochgewachsenen Mann und die schrankförmige Frau entdeckten. Das ist meine Mama. Das ist mein Papa. Die Worte stapelten sich in ihr auf.
»Sie bewegen sich nicht«, sagte sie leise. »Sie bewegen sich nicht.«
Vielleicht würden sie sich schließlich doch bewegen, wenn sie selbst nur lange genug stillstand. Aber sie blieben reglos, obwohl Liesel stocksteif verharrte. Ich bemerkte in diesem Moment, dass sie keine Schuhe trug. Wie merkwürdig, dass mir das auffiel. Vielleicht versuchte ich, ihr nicht ins Gesicht zu sehen, denn die Bücherdiebin war unwiderruflich am Ende.
Sie machte einen Schritt und wollte es dabei belassen, aber sie tat es nicht. Langsam ging Liesel zu ihrer Mama und ihrem Papa und setzte sich zwischen sie. Sie hielt Mamas Hand und fing an zu sprechen. »Weißt du noch, als ich hierherkam, Mama? Ich habe mich an das Tor geklammert und geweint. Weißt du noch, was du zu den Leuten auf der Straße gesagt hast?« Ihre Stimme bebte. »Du sagtest: ›Was glotzt ihr denn so, ihr Arschlöcher? ‹« Sie nahm Mamas Hand fester und berührte das Handgelenk. »Mama, ich weiß, dass du... Ich war so froh, dass du in die Schule gekommen bist und mir gesagt hast, dass Max aufgewacht war. Wusstest du, dass ich dich mit Papas Akkordeon gesehen habe?« Sie klammerte sich an die steifer werdende Hand. »Ich bin aufgestanden und habe zugeschaut, und du warst so wunderschön. Verdammt, du warst so wunderschön, Mama.«
Papa. Sie wollte ihn nicht ansehen.
Sie konnte ihn nicht ansehen.
Noch nicht. Nicht jetzt.
Papa hatte silberne Augen, keine toten.
Papa war ein Akkordeon.
Aber seine Blasebälge waren leer.
Nichts ging hinein, und nichts kam heraus.
Sie wiegte sich vor und zurück. Ein schriller, leiser, verzerrter Ton war in ihrem Mund gefangen, bis sie sich schließlich umdrehen konnte.
Zu Papa.
In diesem Moment konnte ich einfach nicht anders. Ich beschrieb eine Kurve, um besser sehen zu können, und als ich ihr wieder ins Gesicht blicken konnte, wusste ich, dass dies derjenige war, den sie am meisten geliebt hatte. Ihre Züge streichelten das Antlitz des Mannes. Sie folgten einer der Falten seine Wange hinab. Er hatte neben ihr im Badezimmer gesessen und ihr beigebracht, wie man Zigaretten dreht. Er hatte einem toten Mann auf der Münchener Straße Brot geschenkt, und er hatte das Mädchen gebeten, den Menschen im Luftschutzraum vorzulesen. Wenn er das nicht getan hätte, wäre sie vielleicht nie zum Schreiben in den Keller gegangen.
Papa, der Akkordeonspieler, und die Himmelstraße.
Das eine existierte nicht ohne das andere, denn für Liesel bedeutete beides Heimat. Ja, das war Hans Hubermann für Liesel Meminger.
Sie wandte sich um und sprach den Mann von der LSE an.
»Bitte«, sagte sie, »das Akkordeon meines Papas. Könnten Sie es für mich holen?«
Es gab ein kleines Durcheinander, dann brachte ein älterer Mann Liesel den Kasten, und sie öffnete ihn. Sie holte das versehrte Instrument heraus und legte es neben Papas Leichnam. »Hier, Papa.«
Und ich schwöre euch, dass Liesel, als sie neben Hans Hubermann kniete, ihn aufstehen sah und hörte, wie er Akkordeon spielte. Ich sah es selbst, viele Jahre später, in einer Vision der Bücherdiebin. Er stand auf und schnallte sich inmitten des Massivs aus zerborstenen Häusern das Akkordeon um und spielte. Er spielte mit Freundlichkeit in den silbernen Augen und einer Zigarette im Mundwinkel. Er griff sogar einmal daneben und lachte dann darüber. Die Blasebälge atmeten, und der große Mann spielte für Liesel Meminger, ein letztes Mal, während der Himmel langsam vom Feuer genommen wurde.
Spiel weiter, Papa.
Papa hörte auf.
Er ließ das Akkordeon fallen, und seine silbrigen Augen fingen wieder an zu rosten. Jetzt war er nur ein Körper auf der Straße, und Liesel hob ihn hoch und umarmte ihn. Sie weinte über Hans Hubermanns Schulter hinweg.
»Leb wohl, Papa, du hast mich gerettet. Du hast mir das Lesen beigebracht. Niemand kann so spielen wie du. Ich werde nie wieder Champagner trinken. Niemand kann so spielen wie du.«
Ihre Arme hielten ihn fest. Sie küsste seine Schulter – sein Gesicht noch einmal anzuschauen, konnte sie nicht ertragen -, und dann bettete sie ihn nieder.
Die Bücherdiebin weinte, bis man sie sanft wegführte.
Später erinnerte man sich an das Akkordeon, aber niemand beachtete das Buch.
Es gab viel zu tun. Unzählige Male wurde Die Bücherdiebin, neben anderen Gegenständen, mit Füßen getreten. Schließlich hob man das Buch auf, ohne es eines Blickes zu würdigen, und warf es auf einen Müllwagen. Gerade als der Wagen abfahren wollte, kletterte ich schnell hinauf und nahm es mit...
Es war ein glücklicher Zufall, dass ich da war.
Aber wem will ich eigentlich etwas vormachen? Ich bin früher oder später an jedem Ort, und im Jahr 1943 war ich fast überall.
EPILOG
DIE LETZTE FARBE
Es wirken mit:
der Tod und Liesel – hölzerne Tränen – Max – und der
Übergeber
TOD UND LIESEL
Seitdem sind etliche Jahre vergangen, aber es gibt immer noch viel zu tun. Ich versichere euch, dass die Welt eine Fabrik ist. Die Sonne feuert sie an, und die Menschen beherrschen sie. Und ich bleibe. Ich trage sie davon.
Was den Rest der Geschichte betrifft, werde ich nicht lange um den heißen Brei herumreden. Ich bin müde, so müde, und ich werde es euch erzählen, so knapp und direkt, wie ich nur kann.
Ich möchte euch mitteilen, dass die Bücherdiebin gestern
erst gestorben ist.
Liesel Meminger lebte noch sehr lange, weit entfernt von Molching und dem Untergang der Himmelstraße.