Sie starb in einem Vorort von Sydney, Australien. Das Haus hatte die Nummer 45 – so wie das der Fiedlers, wo die Menschen bei Luftangriffen Schutz gesucht hatten -, und der Himmel hatte das großartige Blau eines Nachmittags. Wie die Seele ihres Papas, so saß auch ihre aufrecht da.
Ihre letzten Visionen galten ihren drei Kindern, ihren Enkeln, ihrem Ehemann und der langen Liste aus Leben, die mit ihrem eigenen verwoben waren, unter ihnen – leuchtend wie Laternen – Hans und Rosa Hubermann, ihr Bruder und der Junge, dessen Haar für immer die Farbe von Zitronen hatte.
Aber es gab auch noch andere Bilder.
Kommt mit, und ich werde euch eine Geschichte erzählen.
Ich will euch etwas zeigen.
HOLZ AM NACHMITTAG
Die Himmelstraße war zerstört, und Liesel Meminger hatte kein Zuhause mehr. Man sprach von ihr als dem »Mädchen mit dem Akkordeon«, und man brachte sie zur Polizei, wo nun entschieden werden musste, was mit ihr werden sollte.
Sie saß auf einem sehr harten Stuhl. Das Akkordeon lugte durch ein Loch im Kasten.
Nach drei Stunden erschienen der Bürgermeister und die Frau mit den Fusselhaaren auf der Wache. »Wir haben gehört«, sagte die Frau, »dass ein Mädchen aus der Himmelstraße überlebt hat.«
Der Polizist zeigte ihr den Weg.
Ilsa Hermann bot ihr an, den Kasten zu tragen, aber Liesel hielt ihn fest in der Hand, als sie die Stufen der Wache hinuntergingen. Ein paar Häuserblocks von der Münchener Straße entfernt trennte eine deutlich sichtbare Linie die Ausgebombten von den Glücklichen.
Der Bürgermeister saß am Steuer.
Ilsa hatte sich neben Liesel auf den Rücksitz gesetzt.
Zwischen beiden stand der Instrumentenkasten. Liesels Hand lag darauf, und sie ließ es zu, dass Ilsa Hermann diese Hand mit ihrer eigenen hielt.
Es wäre so leicht gewesen zu schweigen, aber Liesel reagierte ganz anders auf ihr Unglück. Sie saß in dem eleganten Gästezimmer im Haus des Bürgermeisters und redete und redete – mit sich selbst – bis tief in die Nacht hinein. Sie aß kaum etwas. Das Einzige, was sie völlig verweigerte, war ein Bad.
Vier Tage lang trug sie die Überreste der Himmelstraße mit sich herum, hinterließ sie auf den Teppichen und Bodendielen der Großen Straße 8. Sie schlief viel und träumte nicht, und meistens wäre sie am liebsten gar nicht aufgewacht. Alles verschwand, wenn sie schlief.
An dem Tag, an dem die Beerdigungen stattfanden, hatte sie sich immer noch nicht gewaschen, und Ilsa Hermann fragte höflich, ob sie es jetzt tun wolle. Bei früheren Gelegenheiten hatte sie ihr lediglich das Badezimmer gezeigt und ihr ein Handtuch gewiesen.
Die Trauergäste, die der Bestattung von Hans und Rosa Hubermann beiwohnten, sprachen noch lange über das Mädchen in dem hübschen Kleid und der Schicht aus Himmelstraßenschmutz. Es ging das Gerücht, dass sie später am selben Tag völlig angekleidet in die Amper watete und etwas Merkwürdiges sagte.
Etwas von einem Kuss.
Etwas von einem Saumenschen.
Wie viele Male musste sie Abschied nehmen?
Danach kamen und gingen die Wochen und Monate und jede Menge Krieg. In den Augenblicken schlimmster Trauer dachte sie an ihre Bücher, besonders an diejenigen, die speziell für sie gemacht worden waren, und an das eine, das ihr Leben gerettet hatte. Eines Morgens, in einem neuerlichen Zustand des Schocks, ging sie gar in die Himmelstraße, um die Bücher zu suchen, aber es war nichts von ihnen übrig geblieben. Es gab keine Linderung, keine Heilung. Es würde Jahre, Jahrzehnte dauern. Dazu brauchte es ein langes Leben.
Für die Steiners gab es zwei Trauerfeiern. Die erste fand am Tage ihrer Grablegung statt; die zweite, als Alex Steiner auf Urlaub nach Hause kam.
Seit ihn die Nachricht erreicht hatte, war Alex dahingewelkt.
»Herr im Himmel«, sagte er, »wenn ich Rudi nur auf diese Schule geschickt hätte.«
Man rettet jemanden.
Man tötet jemanden.
Wie hätte er es ahnen sollen?
Das Einzige, was er mit Sicherheit wusste, war, dass er alles dafür gegeben hätte, in jener Nacht in der Himmelstraße gewesen zu sein, denn dann hätte Rudi überlebt.
Er erzählte Liesel davon, auf den Stufen zur Großen Straße 8. Er war sofort, nachdem er von ihrer Rettung gehört hatte, zu ihr gekommen.
An diesem Tag, auf den Stufen, wurde Alex Steiner in Stücke gesägt.
Liesel sagte ihm, dass sie Rudis Lippen geküsst hatte. Es war ihr peinlich, aber sie glaubte, dass er es gerne wissen wollte. Er weinte hölzerne Tränen und schenkte ihr ein Eichenlächeln. Der Himmel, den ich in Liesels Vision von diesem Tag sah, war grau und schimmernd. Ein silbriger Nachmittag.
MAX
Als der Krieg vorbei war und Hitler sich in meine Arme begeben hatte, nahm Alex Steiner die Arbeit in seinem Schneidergeschäft wieder auf. Er verdiente kaum Geld damit, aber immerhin konnte er sich ein paar Stunden am Tag ablenken. Liesel begleitete ihn oft. Sie verbrachten viel Zeit miteinander und gingen häufig nach Dachau, nachdem das Konzentrationslager befreit worden war, nur um jedes Mal von den Amerikanern abgewiesen zu werden.
Endlich, im Oktober 1945, kam ein Mann mit sumpfigen Augen, fedrigen Haaren und einem glatt rasierten Gesicht in den Laden. Er ging zur Verkaufstheke. »Ich suche Liesel Meminger. Ist sie hier?«
»Ja, sie ist hinten«, sagte Alex. Hoffnung machte sich in ihm breit, aber er wollte ganz sicher sein. »Darf ich fragen, wer Sie sind?«
Liesel kam heraus.
Sie fielen sich in die Arme, weinten und gingen zu Boden.
DER ÜBERGEBER
Ja, ich habe in dieser Welt vieles erlebt. Ich bin bei den größten Katastrophen dabei und diene den schlimmsten Schurken.
Aber es gibt auch andere Momente.
Einer Vielzahl von Geschichten (oder nur einer Handvoll, wie ich bereits eingangs erklärte) gestatte ich, mich bei der Arbeit abzulenken, genauso wie es die Farben vermögen. Ich finde sie an den unglücklichsten, unwahrscheinlichsten Orten, und ich sorge dafür, dass ich mich an sie erinnere, während ich mit meiner Arbeit fortfahre. Die Bücherdiebin ist eine solche Geschichte.
Als ich nach Sydney kam und Liesel mitnahm, konnte ich endlich etwas tun, worauf ich schon lange gewartet hatte. Ich setzte sie ab, und wir gingen über die Anzac Avenue, in der Nähe des Fußballplatzes, und dann zog ich ein staubiges schwarzes Buch aus meiner Tasche.
Die alte Frau war verblüfft. Sie nahm es in die Hand und fragte: »Ist das mein Buch?«
Ich nickte.
Beklommen öffnete sie Die Bücherdiebin und blätterte durch die Seiten. »Ich kann es nicht glauben...« Obwohl der Text verblasst war, konnte sie ihre Worte noch lesen. Die Finger ihrer Seele berührten die Geschichte, die vor so langer Zeit im Keller der Himmelstraße geschrieben worden war.
Sie setzte sich auf die Bordsteinkante, und ich gesellte mich zu ihr.
»Hast du es gelesen?«, fragte sie mich, aber sie schaute mich nicht an. Ihre Augen hingen an den Worten.
Ich nickte. »Viele Male.«
»Hast du es verstanden?«
Was folgte, war ein langes Schweigen.
Ein paar Autos fuhren vorüber, in beide Richtungen. Hinter den Lenkrädern saßen Hitlers, Hubermanns und Maxe, Mörder, Lindners und Steiners …
Ich wollte der Bücherdiebin vieles sagen, über Schönheit und Brutalität. Aber was sollte ich ihr darüber erzählen, was sie nicht schon längst wusste? Ich wollte ihr erklären, dass ich die menschliche Rasse permanent unter- und überschätze – dass ich sie nur selten einzuschätzen weiß. Ich wollte sie fragen, wie ein und dieselbe Sache so hässlich und gleichzeitig so herrlich sein kann und ihre Worte und Geschichten so vernichtend und brillant.
Aber nichts davon kam mir über die Lippen.