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»Schau mal«, sagte Rudi.

STECKBRIEF

Pfiffikus war schmal gebaut.

Er bestand aus weißem Haar.

Er bestand weiterhin aus einem schwarzen Regenmantel,

braunen Hosen, modrigen Schuhen und einem Mundwerk -

und was für einem Mundwerk!

»He, Pfiffikus!«

Als die Gestalt, die noch ein ganzes Stück von ihnen entfernt war, sich umdrehte, fing Rudi an zu pfeifen.

Im selben Moment straffte der alte Mann die Schultern und begann, mit einer derartigen Heftigkeit und einem Talent zu fluchen, das seinesgleichen sucht. Keiner schien den Namen zu kennen, auf den er getauft war, und wenn doch, dann benutzten sie ihn nie. Er wurde Pfiffikus genannt, weil er gerne pfiff. Ständig entschlüpfte seinen gespitzten Lippen die Melodie des Radetzky-Marsches, und sämtliche Kinder aus Molching riefen ihn, wenn sie ihn sahen, und pfiffen dieselbe Melodie. In diesem Augenblick warf dann Pfiffikus seine gewohnte Gangart ab (gebückt, mit großen, langen Schritten, die Hände hinter seinem Regenmantel auf dem Rücken verschränkt), richtete sich zu voller Größe auf und begann mit seiner Schimpftirade. Dann fiel jegliche Gelassenheit von ihm ab, und seine Stimme erzitterte vor Zorn.

An besagtem Tag folgte Liesel Rudis Neckerei ganz automatisch.

»Pfiffikus!«, rief auch sie, und ihre Stimme nahm jenen bösartigen Ton an, der der Kindheit vorbehalten ist. Ihr Pfeifen war grauenhaft, aber ihr war nie Zeit zum Üben geblieben.

Er jagte sie, brüllte ihnen hinterher. »Geht scheißen!« war nur der Anfang. Zunächst richtete er seine Schimpfworte nur an den Jungen, aber bald schon war auch Liesel an der Reihe.

»Du kleine Schlampe!«, schrie er sie an. Die Worte schlugen ihr in den Rücken. »Dich hab ich noch nie gesehen!« Stellt euch vor: Ein zehnjähriges Mädchen eine Schlampe zu nennen! Aber so war Pfiffikus. Es herrschte Einigkeit darüber, dass er und Frau Holzinger ein allerliebstes Paar abgeben würden. »Kommt sofort her!« waren die letzten Worte, die Liesel und Rudi hörten, als sie davonliefen. Sie rannten, bis sie die Münchener Straße erreicht hatten.

»Komm weiter«, sagte Rudi, nachdem sie wieder zu Atem gekommen waren. »Nur noch ein kleines Stück.«

Er brachte sie zum Sportplatz, wo sich jene berüchtigte Jesse-Owens-Sache zugetragen hatte. Sie standen da, mit den Händen in den Taschen. Vor ihnen erstreckte sich die Bahn. Es kam, wie es kommen musste. Rudi machte den Anfang. »Hundert Meter«, stachelte er sie an. »Ich wette, ich bin schneller.«

Das ließ sich Liesel nicht gefallen. »Wetten, dass nicht?«

»Worum wetten wir, Saumensch? Hast du Geld?«

»Natürlich nicht. Du etwa?«

»Nein.« Aber Rudi hatte eine Idee. Aus seinen nächsten Worten sprach der liebeshungrige Jüngling. »Wenn ich gewinne, kriege ich einen Kuss.« Er bückte sich und fing an, sich die Hosenbeine hochzurollen.

Liesel war, gelinde gesagt, erschrocken. »Warum willst du mich küssen? Ich bin dreckig.«

»Ich auch.« Rudi sah nicht ein, wieso ein bisschen Dreck einem Kuss im Wege stehen sollte. Es war eine Weile her, seit die beiden ein Bad genommen hatten.

Liesel dachte ein paar Augenblicke darüber nach, während sie die dürren Beine ihres Herausforderers betrachtete. Ihre eigenen sahen genauso aus. Der schlägt mich auf keinen Fall, dachte sie und nickte. Sie waren handelseins. »Wenn du gewinnst, kannst du mich küssen. Und wenn ich gewinne, dann muss ich beim Fußball nicht mehr im Tor stehen.«

Rudi überlegte. »Abgemacht.« Sie besiegelten ihre Wette per Handschlag.

Der Himmel war dunkel, und diesiger Nebel überschattete alles. Erste kleine Regensplitter fielen herab.

Die Bahn war weicher, als es zunächst den Anschein hatte.

Die Wettläufer machten sich bereit.

»Ich kann nicht mal die Ziellinie sehen«, beklagte sich Liesel.

»Meinst du vielleicht, ich?«

Rudi warf als Startzeichen einen Stein in die Luft. Das Rennen war eröffnet, als er zu Boden fiel.

Sie rannten nebeneinanderher, schubsten sich mit den Ellbogen, und jeder versuchte, in Führung zu gehen. Der glitschige Boden schlürfte an ihren Füßen und brachte sie etwa zwanzig Meter vor der Ziellinie zu Fall.

»Jesus, Maria und Josef!«, quietschte Rudi. »Ich bin voller Scheiße!«

»Das ist keine Scheiße«, widersprach Liesel, obwohl sie selbst ihre Zweifel hatte. »Das ist Schlamm.« Sie rutschten weitere fünf Meter in Richtung Ziel. »Unentschieden?«, schlug Liesel vor.

Rudi schaute sie von der Seite an. Seine spitzen Zähne und die strahlenden blauen Augen blitzten. Die Hälfte seines Gesichts war mit Schlamm bemalt. »Wenn es unentschieden ist, kriege ich trotzdem einen Kuss?«

»Nie im Leben.« Liesel stand auf und wischte sich etwas Schlamm von der Jacke.

»Du darfst auch aus dem Tor raus.«

»Pfeif drauf.«

Während sie zur Himmelstraße zurückgingen, wagte Rudi eine Prophezeiung. »Eines Tages, Liesel«, sagte er, »wirst du bereit sein, für einen Kuss von mir zu sterben.«

Aber Liesel wusste es besser.

Sie tat einen Schwur.

So lange sie und Rudi Steiner lebten, würde sie diesen elenden, schmutzigen Saukerl nie und nimmer küssen, schon gar nicht heute. Es gab Wichtigeres. Sie schaute an ihrem Anzug aus Schlamm hinab und sprach aus, was offensichtlich war.

»Sie bringt mich um.«

»Sie« war natürlich niemand anderes als Rosa Hubermann, auch bekannt als Mama, und sie brachte Liesel tatsächlich fast um. Das Wort »Saumensch« spielte bei der Bestrafungszeremonie eine herausragende Rolle. Sie machte Hackfleisch aus Liesel.

DIE JESSE-OWENS-SACHE

Als Rudi sein Husarenstück auf der Rennbahn vollführte, wohnte Liesel noch nicht in der Himmelstraße. Trotzdem hatte sie das Gefühl, dabei gewesen zu sein. In ihrer Erinnerung war sie zu einem Mitglied von Rudis imaginärem Publikum geworden. Niemand sonst sprach darüber, Rudi dagegen umso häufiger – und zwar so häufig, dass Liesel, als sie daranging, ihre eigene Geschichte aufzuschreiben, die Jesse-Owens-Sache als Teil der Ereignisse betrachtete, die sie wirklich und wahrhaftig selbst erlebt hatte.

Es war das Jahr 1936. Die Olympischen Spiele. Hitlers Spiele.

Jesse Owens hatte gerade mit der Staffelmannschaft seine vierte Goldmedaille gewonnen. Die Behauptung, dass er ein Untermensch sei, weil er schwarz war, und die Tatsache, dass Hitler sich weigerte, ihm die Hand zu schütteln, gingen um die ganze Welt. Selbst die rassistischsten Deutschen waren beeindruckt von Owens’ Leistung, und so schlüpften auch Worte der Anerkennung und Bewunderung durch die Maschen der Zensur. Doch niemand war begeisterter als Rudi Steiner.

Die ganze Familie saß im Wohnzimmer versammelt. Rudi schlich sich aus dem Zimmer und in die Küche. Er holte ein paar Stückchen Kohle aus dem Herd und versteckte sie in seinen kleinen Händen. Auf geht’s. Ein Lächeln. Er war bereit.

Er schmierte sich mit Kohle voll, schön dick, bis er vollkommen schwarz war. Selbst seine Haare kamen nicht ungeschoren davon.

Der Junge erblickte sein Spiegelbild im Fenster und schenkte ihm ein fast irres Grinsen. Gekleidet in eine kurze Hose und Unterhemd, stahl er heimlich, still und leise das Fahrrad seines älteren Bruders und radelte die Straße entlang zum Sportplatz. In eine seiner Hosentaschen hatte er eine Kohlereserve gepackt, für den Fall, dass etwas von der Schwärze abging.

In Liesels Erinnerung war der Mond in dieser Nacht wie an den Himmel genäht. Drumherum waren Wolken gestickt.

Das rostige Fahrrad kam knirschend am Zaun des Sportplatzes zum Stehen, und Rudi kletterte hinüber. Er landete auf der anderen Seite und trottete mit seinen schmächtigen Beinen auf die Startlinie der 100-Meter-Strecke zu. Voller Enthusiasmus setzte er zu einer Reihe von unbeholfenen Dehnübungen an. Er grub Startlöcher in den Schmutz.