Sie schaute vom Herd auf. »Was?«
»Ich bitte dich, ich flehe dich an – könntest du nur ein einziges Mal für fünf Minuten den Mund halten?«
Was dann folgte, könnt ihr euch vorstellen.
Sie landeten im Keller.
Es gab kein Licht da unten, daher nahmen sie die Kerosinlampe mit. Langsam, zwischen Schule und Zuhause, zwischen Fluss und Keller, zwischen guten und schlechten Tagen – langsam lernte Liesel lesen und schreiben.
»Bald schon«, sagte Papa zu ihr, »wirst du dieses fürchterliche Grabesbuch mit geschlossenen Augen lesen können.«
»Und ich kann endlich aus der Wichtelklasse raus.«
Aus ihren Worten sprach grimmiger Besitzerstolz.
Während einer ihrer Kellerstunden legte Papa das Sandpapier beiseite (viel war nicht mehr übrig) und holte einen Pinsel hervor. Es gab wenig Luxus im Haus der Hubermanns, aber an Farbe mangelte es nicht, und sie wurde zu einem wichtigen Verbündeten in Liesels Unterricht. Papa sagte ein Wort, das Mädchen musste es buchstabieren und dann, wenn es richtig war, an die Wand malen. Nach einem Monat war die Wand voll. Eine frisch bedruckte Zementseite.
An einigen Abenden saß Liesel nach dem Kellerunterricht in der Badewanne und lauschte den immer gleichen Worten aus der Küche.
»Du stinkst«, sagte Mama zu Hans, »nach Zigaretten und Kerosin.«
Sie hockte im Wasser und stellte sich den Geruch vor, der sich auf Papas Kleidern entfaltete. Mehr als alles andere war es der Geruch von Freundschaft, und sie roch ihn auch an sich selbst. Liesel liebte diesen Geruch. Sie schnüffelte an ihrem Arm und lächelte, während das Badewasser kalt wurde.
BOX-CHAMPION AUF DEM SCHULHOF
Der Sommer des Jahres 1939 hatte es eilig, oder vielleicht war es auch Liesel, die in Eile war. Sie spielte Fußball mit Rudi und den anderen Kindern auf der Himmelstraße (ein ganzjähriges Vergnügen), lieferte mit Mama zusammen Wäsche aus, und sie lernte Wörter. Der Sommer schien vorbei, kaum dass er begonnen hatte.
In der zweiten Jahreshälfte ereignete sich zweierlei:
1. Der Zweite Weltkrieg bricht aus.
2. Liesel Meminger wird Box-Champion auf dem Schulhof.
Anfang September.
Es war ein kühler Tag in Molching, als der Krieg ausbrach und ich mit noch mehr Arbeit überhäuft wurde.
Die Welt sprach darüber.
Die Zeitungen ergötzten sich daran.
Aus den deutschen Radios brüllte die Stimme des Führers. Wir werden nicht aufgeben. Wir werden nicht ruhen. Wir werden siegen. Unsere Zeit ist gekommen.
Deutschland marschierte in Polen ein. Überall versammelten sich Menschen und lauschten den Neuigkeiten. Die Münchener Straße, wie jede andere Straße in Deutschland auch, wimmelte vor lauter Krieg. Der Geruch, die Stimme. Vor einigen Tagen hatte die Rationierung begonnen, es war überall angeschlagen – und jetzt war es offizielclass="underline" England und Frankreich hatten Deutschland den Krieg erklärt. Um mit Hans Hubermanns Worten zu sprechen:
Los geht’s.
Am Tag der Kriegserklärung hatte Hans Hubermann das Glück, etwas Arbeit gefunden zu haben. Auf dem Heimweg hob er eine weggeworfene Zeitung auf, und statt sie zusammengefaltet zwischen die Farbeimer auf seinem Handkarren zu schieben, steckte er sie sich unters Hemd. Als er zu Hause ankam und sie wieder hervorzog, hatte sein Schweiß die Druckerschwärze auf seine Haut gepresst. Die Zeitung landete auf dem Tisch, aber die Nachrichten standen auf seiner Brust. Eine Tätowierung. Er zog das Hemd zur Seite und schaute im unsicheren Licht der Küchenlampe an sich herab.
»Was steht da?«, fragte Liesel. Sie schaute zwischen den schwarzen Buchstaben auf seiner Haut und dem Papier auf dem Tisch hin und her.
»Hitler überrollt Polen«, antwortete er und ließ sich auf den Stuhl fallen. »Deutschland, Deutschland über alles«, flüsterte er. Seine Stimme hatte nicht den leisesten patriotischen Unterton.
Da war es wieder – das Akkordeon-Gesicht.
Das war der eine Krieg.
Liesel sollte sich bald in einem zweiten befinden.
Fast einen Monat nachdem die Schule wieder angefangen hatte, wurde sie in ihren entsprechenden Jahrgang versetzt. Man sollte glauben, dass dies mit ihrem verbesserten Lesevermögen zu tun hatte, aber das war nicht der Fall. Trotz ihrer Fortschritte hatte sie immer noch große Schwierigkeiten beim Lesen. Überall waren Sätze verstreut. Worte hielten sie zum Narren. Der Grund dafür, dass man sie versetzte, war, dass sie in der Klasse der Schulanfänger zum Störfaktor wurde. Sie beantwortete Fragen, die an andere Kinder gerichtet waren, und rief dazwischen. Ein paar Mal wurde sie heftig von ihrer Lehrerin gewatscht.
Watsche = eine ordentliche Ohrfeige
watschen = jemandem eine anständige Abreibung verpassen
Und so wurde sie versetzt, wurde zu einem Platz am Rande des Klassenzimmers gewiesen, und die Lehrerin, die außerdem Nonne war, befahl ihr, den Mund zu halten. Rudi, der auf der anderen Seite des Raums saß, sah zu ihr und winkte. Liesel winkte zurück und versuchte, nicht zu lächeln.
Zu Hause kamen sie und Papa mit dem Handbuch für Totengräber gut voran. Sie unterstrichen die Wörter, die sie nicht verstanden, und nahmen sie am nächsten Tag mit hinunter in den Keller. Liesel glaubte, das wäre genug. Aber das war es nicht.
Anfang November fanden in der Schule Prüfungen statt; die Fortschritte der Schüler sollten kontrolliert werden. Eine dieser Prüfungen betraf das Lesen. Jedes Kind musste vor die Klasse treten und einen Absatz vorlesen, den die Lehrerin ausgewählt hatte. Es war ein frostiger Morgen, aber sonnenhell. Die Kinder kniffen die Augen zusammen. Ein Heiligenschein umgab Schwester Maria, die Nonne, die eher aussah wie ein Sensenmann ohne Sense. (Übrigens mag ich die Vorstellung, die sich die Menschen vom Tod als Sensenmann machen. Mir gefällt die Sense. Ich finde sie amüsant.)
In dem sonnendurchfluteten Klassenzimmer wurden willkürlich Namen aufgerufen.
»Waldenheim. Lehmann. Steiner.«
Alle standen auf und lasen vor, alle mit höchst unterschiedlichen Ergebnissen. Rudi war überraschend gut.
Während die Prüfung ihren Lauf nahm, saß Liesel mit einer Mischung aus heißer Erregung und maßloser Angst da. Sie wünschte sich verzweifelt, ihre Fähigkeit einschätzen zu können, ein für alle Mal herauszufinden, welche Fortschritte sie mit dem Lesen gemacht hatte. War sie der Aufgabe gewachsen? Konnte sie sich auch nur annähernd mit Rudi und den anderen messen?
Jedes Mal, wenn Schwester Maria auf ihre Liste schaute, verkrampfte sich ein Nervenstrang in Liesels Brustkorb. Es hatte im Bauch angefangen, sich aber mittlerweile nach oben gearbeitet. Bald schon würde der Krampf um ihren Hals liegen wie ein dickes Seil.
Nachdem Tommi Müller seine mittelmäßige Vorstellung abgegeben hatte, sah sich Liesel im Klassenzimmer um. Alle hatten vorgelesen. Sie war als Einzige noch übrig.
»Sehr gut.« Schwester Maria nahm die Liste noch einmal genau in Augenschein. »Das war’s.«
Was?
»Nein!«
Auf der anderen Seite des Raums nahm die Stimme eine fast körperliche Form an. An ihr hing ein Junge mit zitronengelben Haaren, dessen knochige Knie in den Hosenbeinen unter dem Tisch aneinanderklapperten. Er hob die Hand und sagte: »Schwester Maria, ich glaube, Sie haben Liesel vergessen.«
Schwester Maria.
Blieb unbeeindruckt.
Sie ließ die Mappe mit der Liste vor sich auf das Pult fallen und betrachtete Rudi mit seufzender Missbilligung. Ihr Seufzen war beinahe schon melancholisch. Warum, so klagte sie still, musste sie sich mit Rudi Steiner herumärgern? Er konnte einfach seinen Mund nicht halten. Warum nur, Gott, warum?