Kurt Steiner rief nach den beiden, aber sie rührten sich nicht. Sie saß – mit schmerzendem Hintern und Herzen – zwischen den niederfallenden Regenbündeln, und er stand wartend neben ihr.
»Warum hat er sterben müssen?«, fragte sie, aber immer noch tat Rudi nichts, sagte nichts.
Als sie endlich fertig war und aufstand, legte er ihr in bester kameradschaftlicher Manier den Arm um die Schultern. So gingen sie weiter. Er fragte nicht nach einem Kuss. Nichts in der Art. Dafür solltet ihr Rudi lieben.
Tritt mir bitte nicht in die Eier.
Das war sein Gedanke, aber er sprach ihn nicht aus.
Erst vier Jahre später gestand er Liesel seine diesbezügliche Befürchtung.
Doch noch gingen Rudi und Liesel die Himmelstraße entlang. Im Regen.
Er war der Verrückte, der sich schwarz angemalt und die Welt besiegt hatte.
Sie war die Bücherdiebin ohne Worte.
Aber ihr könnt mir glauben: Die Worte waren bereits zu ihr unterwegs, und als sie ankamen, hielt Liesel sie wie Wolken in den Händen und wrang sie aus bis auf den letzten Tropfen.
TEIL 2
DAS SCHULTERZUCKEN
Es wirken mit:
ein Mädchen, erschaffen aus Dunkelheit – Glück gegen
Zigaretten – eine Stadtläuferin – ein paar tote Briefe – Hitlers
Geburtstag – 100 Prozent reiner deutscher Schweiß – die Tür
zum Diebstahl – und ein Buch des Feuers
EIN MÄDCHEN, ERSCHAFFEN AUS DUNKELHEIT
13. Januar 1939: Das erste Buch wird gestohlen.
20. April 1940: Das zweite Buch wird gestohlen.
Zeitlicher Abstand zwischen den beiden Diebstählen:
463 Tage.
Es ließe sich leichtfertig behaupten, dass nur ein bisschen Feuer nötig war und ein paar menschliche Stimmen, die dazu brüllten und schrien – dass dies alles war, was Liesel zur Rechtfertigung brauchte, um das zweite Buch zu stehlen, es zu packen, auch wenn es in ihren Händen schmauchte. Auch wenn es ihre Rippen in Brand steckte.
Es ergibt sich nur folgendes Problem:
Dies ist nicht die rechte Zeit, um leichtfertig zu sein.
Es ist nicht die rechte Zeit, um nur mit einem Auge hinzusehen, sich umzudrehen oder nebenbei nach der Milch auf dem Herd zu schauen – denn als die Bücherdiebin ihr zweites Buch stahl, spielten in diesem Verlangen nicht nur zahlreiche Faktoren eine Rolle, sondern die Tat – das Stehlen – war selbst auch Auslöser dessen, was noch folgen sollte. Sie würde ihr den Weg zu weiteren Diebstählen weisen. Sie sollte Hans Hubermann dazu inspirieren, sich einen Plan auszudenken, wie er einem jüdischen Faustkämpfer helfen konnte. Und es sollte mir einmal mehr beweisen, dass eine Gelegenheit geradewegs zu einer anderen führt, genauso wie ein Risiko ein weiteres nach sich zieht, ein Leben ein anderes und ein Tod den nächsten.
Auf gewisse Weise war es Schicksal.
Wisst ihr, man behauptet, dass Nazi-Deutschland auf Antisemitismus erbaut wurde, auf einem übereifrigen Führer und einer Nation von mit Hass überfütterten Heuchlern. Aber das alles hätte zu nichts geführt, wenn die Deutschen nicht eine ganz besondere Vorliebe gehabt hätten:
Etwas zu verbrennen.
Die Deutschen liebten es, Dinge zu verbrennen. Geschäfte, Synagogen, Reichstagsgebäude, Häuser, persönliche Gegenstände, die Leichen ermordeter Menschen und natürlich: Bücher. Eine gute Bücherverbrennung war Gold wert – und gab nebenbei all jenen, die eine Schwäche für Bücher hatten, die Gelegenheit, Exemplare zu ergattern, die sie unter normalen Umständen nie in die Hände bekommen hätten. Eine Person mit einer solchen Veranlagung war, wie wir wissen, ein schmalknochiges Mädchen namens Liesel Meminger. Sie hatte zwar 463 Tage warten müssen, aber das war es wert gewesen. Am Ende eines Nachmittags, der jede Menge Aufregung mit sich gebracht hatte, viel herrliche und prächtige Abscheulichkeiten, einen blutigen Fußknöchel und eine Ohrfeige von einer vertrauten Hand, schlug Liesel Meminger ein zweites Mal erfolgreich zu. Das Schulterzucken. Es war ein blaues Buch mit roter Schrift, die in den Einband eingraviert war. Unter dem Titel befand sich, ebenfalls in Rot, das kleine Bild eines Kuckucks. Zurückblickend schämte sich Liesel nicht, dass sie das Buch gestohlen hatte. Im Gegenteiclass="underline" Das Gefühl, das der Empfindung in ihrem Bauch am nächsten kam, war Stolz – und dann waren da noch Wut und dunkler Hass, der das Verlangen zu stehlen angestachelt hatte. Am 20. April, am Geburtstag des Führers, als sie das Buch unter einem dampfenden Haufen Asche hervorzog, war Liesel ein Mädchen, das aus Dunkelheit erschaffen war.
Es stellt sich die Frage nach dem Warum.
Worüber war sie so wütend?
Was war in den vorangegangenen vier oder fünf Monaten geschehen, dass sich solche Gefühle angestaut hatten?
Kurz gesagt: Die Antwort wanderte von der Himmelstraße zum Führer, zu dem unbekannten Aufenthaltsort ihrer Mutter und wieder zurück.
Wie so oft bei Leid und Elend fing alles mit vermeintlicher Freude an.
GLÜCK GEGEN ZIGARETTEN
Gegen Ende des Jahres 1939 hatte sich Liesel recht gut in Molching eingelebt. Sie wurde immer noch von Albträumen über ihren Bruder heimgesucht, und sie vermisste ihre Mutter, aber es gab jetzt auch Tröstliches in ihrem Leben.
Sie liebte ihren Papa, Hans Hubermann, und sogar ihre Pflegemutter, trotz der Beschimpfungen und Flüche. Sie liebte und hasste ihren besten Freund Rudi Steiner, was völlig normal war. Und sie liebte die Tatsache, dass sie trotz ihrer Niederlage in der Schule mit dem Lesen und Schreiben vorankam und sie schon bald ein recht anständiges Niveau erreicht haben würde. All das führte zu einer Art Zufriedenheit und sollte sich in Kürze zu einem Gefühl von Glück steigern.
1. Das Handbuch für Totengräber fertig lesen.
2. Dem Zorn von Schwester Maria entrinnen.
3. Zwei Bücher zu Weihnachten geschenkt bekommen.
17. Dezember. Sie erinnerte sich genau an das Datum, weil es gerade noch eine Woche bis Weihnachten war.
Wie üblich unterbrach der nächtliche Albtraum ihren Schlaf, und sie wurde von Hans Hubermann geweckt. Seine Hand hielt den schwitzigen Stoff ihres Schlafanzugs fest. »Der Zug?«, fragte er flüsternd.
Liesel bekräftigte es. »Der Zug.«
Sie schnappte nach Luft, bis sie bereit war, und sie fingen an, das elfte Kapitel aus dem Handbuch für Totengräber zu lesen. Kurz nach drei Uhr morgens waren sie damit fertig, und nun blieb nur noch das letzte Kapitel übrig: »Respekt vor dem Friedhof«. Papa, dessen silbrige Augen in seinem von Bartstoppeln übersäten Gesicht vor Müdigkeit geschwollen waren, klappte das Buch zu und erwartete, ein letztes bisschen Schlaf abzubekommen. Es wurde ihm verwehrt.
Das Licht war erst seit ein paar Minuten ausgeschaltet, da sprach Liesel durch die Dunkelheit.
»Papa?«
Er machte nur ein Geräusch, tief in seiner Kehle.
»Bist du wach, Papa?«
»Ja.«
Sie stützte sich auf einen Ellbogen. »Können wir das Buch fertig lesen? Bitte!«
Ein lang gezogener Atemzug kam, das Kratzen einer Hand auf Bartstoppeln, und dann Licht. Er öffnete das Buch und las: »Kapitel 12: Respekt vor dem Friedhof«.
Sie lasen bis zum frühen Morgen, unterstrichen die Worte, die sie nicht verstanden, schrieben sie auf und blätterten die Seiten um, bis es dämmerte. Ein paar Mal wäre Papa fast eingeschlafen, hätte beinahe der verlockenden Müdigkeit in seinen Augen und dem Welken in seinem Kopf nachgegeben. Aber Liesel erwischte ihn jedes Mal dabei, wobei sie weder die Selbstlosigkeit bewies, die ihm erlaubt hätte einzuschlafen, noch die Frechheit, empört zu sein. Sie war ein Mädchen, das einen Berg besteigen wollte.