Dennoch fragt ihr euch möglicherweise, warum ich überhaupt Urlaub brauche. Ihr wollt wissen, wovon ich mich ablenken muss?
Was mich zum nächsten Punkt bringt.
Es sind die übrig gebliebenen Menschen.
Die Überlebenden.
Sie sind es, deren Anblick ich nicht ertrage, und in meinem Bemühen, sie nicht anzusehen, versage ich häufig. Ich konzentriere mich absichtlich auf die Farben, um die Überlebenden aus meinen Gedanken zu verbannen, aber hin und wieder werde ich Zeuge, wie die Zurückbleibenden zwischen den Puzzlestücken der Erkenntnis, Überraschung und Verzweiflung zusammenbrechen. Sie haben zerstochene Herzen. Sie haben zerschlagene Lungen.
Was mich wiederum zu dem Thema bringt, über das ich heute Abend – oder heute Mittag, oder welche Stunde und Farbe es auch immer gerade sein mag – mit euch reden will. Es ist die Geschichte von einer beständig Überlebenden – von einer Expertin im Zurückbleiben.
Es ist eigentlich nur eine kleine Geschichte, und sie handelt unter anderem von:
• einem Mädchen
• ein paar Worten
• einem Akkordeonspieler
• ein paar fanatischen Deutschen
• einem jüdischen Faustkämpfer
• und einer ganzen Menge Diebstählen
Ich sah die Bücherdiebin drei Mal.
NEBEN DEN BAHNGLEISEN
Das erste Mal war es weiß. Gleißend.
Einige von euch werden wahrscheinlich denken, dass Weiß gar keine Farbe ist. Völliger Blödsinn. Das stimmt nicht. Weiß ist zweifellos eine Farbe, und ich glaube ehrlich gesagt nicht, dass ihr mit mir streiten wollt.
Bitte bleibt ruhig, trotz dieser offenkundigen Drohung.
Ich tue nur so.
Ich bin nicht gewalttätig.
Ich bin nicht bösartig.
Ich bin das Ergebnis.
Ja, es war weiß.
Es war so, als ob der ganze Erdball in Schnee gekleidet wäre. Als ob er ihn angelegt hätte, so wie ihr einen Pullover anzieht. Neben der Bahnstrecke verliefen Fußspuren, eingesunken bis zum Schienbein. Die Bäume trugen Decken aus Eis.
Wie ihr euch vielleicht schon gedacht habt, war jemand gestorben.
Sie konnten ihn nicht einfach auf dem Boden liegen lassen. Im Augenblick wäre das kein Problem gewesen, aber schon bald würde das Gleis geräumt sein und der Zug würde weiterfahren.
Da waren zwei Wachmänner.
Da waren eine Mutter und ihre Tochter.
Und eine Leiche.
Die Mutter, die Tochter und die Leiche verharrten, hartnäckig und still.
»Was willst du denn von mir?«
Die Wachmänner waren groß und klein. Der Große sprach stets zuerst, obwohl er nicht das Kommando führte. Er sah den rundlichen Kleinen an. Den mit dem feuchtroten Gesicht.
»Nun«, lautete die Erwiderung, »wir können ihn doch wohl nicht einfach hier liegen lassen?«
Der Große verlor die Geduld. »Und warum nicht?«
Der Kleinere explodierte beinahe. Er schaute zu dem Kinn des Großen auf und schrie: »Spinnst du?« Die Abscheu auf seinen Wangen wuchs mit jedem Moment. Seine Haut weitete sich. »Komm«, sagte er und stapfte durch den Schnee. »Wir tragen sie alle drei zurück, wenn es sein muss. Und wir melden es der nächsten Station.«
Was mich betrifft, so hatte ich den größten aller Fehler bereits begangen. Ich kann euch gar nicht sagen, wie sehr ich von mir selbst enttäuscht war. Anfangs hatte ich alles richtig gemacht:
Ich betrachtete den blendenden, weißschneeigen Himmel, der vor dem Fenster des fahrenden Zuges stand. Ich atmete ihn förmlich ein, aber trotzdem geriet ich ins Wanken. Ich gab nach – mein Interesse war geweckt. An dem Mädchen. Die Neugier siegte, und ich beschloss, so lange zu bleiben, wie es mein Zeitplan erlaubte. Ich schaute zu.
Dreiundzwanzig Minuten später hielt der Zug an, und ich stieg gemeinsam mit ihnen aus.
Eine kleine Seele lag in meinen Armen.
Ich stand zu ihrer Rechten, etwas abseits.
Die tatkräftigen beiden Wachmänner gingen zurück zu der Mutter, dem Mädchen und dem schmächtigen männlichen Leichnam. Ich erinnere mich noch genau daran, dass mein Atem an diesem Tag ungewöhnlich laut war. Ich war überrascht, dass die Wachen mich nicht bemerkten, als sie an mir vorbeigingen. Die Welt wurde niedergedrückt unter all der Last aus Schnee.
Etwa zehn Meter zu meiner Linken stand das bleiche Mädchen, durchgefroren bis auf die Knochen und mit leerem Magen.
Ihr Mund zitterte.
Sie hatte die kalten Arme überkreuzt.
Gefrorene Tränen hingen auf dem Gesicht der Bücherdiebin.
DIE FINSTERNIS
Das nächste Mal war es schwarz, wie Druckerschwärze, als ob der Gegensatz zu dem Weiß meine Vielseitigkeit unterstreichen wollte. Es war der dunkelste Augenblick vor der Dämmerung.
Diesmal war ich wegen eines Mannes von vierundzwanzig Jahren gekommen. Auf eine bestimmte Weise war es ein herrlicher Anblick. Das Flugzeug hustete noch. Rauch drang aus seiner Lunge.
Als es abstürzte, hinterließ es drei tiefe Furchen in der Erde. Seine Flügel waren nur mehr abgesägte Arme. Nie wieder durch die Lüfte gleiten. Auch das Leben des Flugzeugs war zu Ende.
Manchmal treffe ich zu früh ein.
Ich beeile mich,
und manche Menschen klammern sich länger
an das Leben als erwartet.
Nach einer kurzen Ansammlung von Minuten hatte sich der Rauch erschöpft. Nichts mehr war geblieben.
Zuerst kam ein Junge, mit wildem Atem und einem Gegenstand in seiner Hand, der aussah wie ein Werkzeugkasten. Beklommen näherte er sich dem Cockpit und betrachtete den Piloten, versuchte einzuschätzen, ob er am Leben war, was zu diesem Zeitpunkt noch zutraf. Die Bücherdiebin kam etwa eine halbe Minute später.
Jahre waren vergangen, aber ich erkannte sie.
Sie keuchte.
Aus dem Werkzeugkasten nahm der Junge einen Teddybären. Ausgerechnet einen Teddybären.
Er streckte seinen Arm durch die zersplitterte Windschutzscheibe und setzte den Teddy auf die Schulter des Piloten. Der lächelnde Bär saß gemütlich in dem Durcheinander aus Wrackteilen und im Blut des zerschmetterten Mannes. Ein paar Minuten später ergriff ich die Gelegenheit. Der Zeitpunkt war gekommen.
Ich trat hinzu, löste seine Seele und trug sie sanft hinweg.
Alles, was übrig blieb, waren der Körper, der schwächer werdende Geruch nach Rauch und der lächelnde Teddybär.
Als die Menschenmenge eintraf, hatte sich bereits alles verändert. Der Horizont glich glühender Kohle. Alles, was von der Schwärze übrig geblieben war, waren gekritzelte Linien auf dem Himmel, und auch die verschwanden schnell.
Im Vergleich dazu schimmerte der Mann knochenweiß. Seine Haut hatte die Farbe menschlichen Gebeins. Seine Augen waren kalt und braun – wie Kaffeeflecken -, und das schwächer werdende Gekritzel über mir formte sich, so schien es mir, zu einem merkwürdigen und doch vertrauten Zeichen.
Die Menge tat, was sie immer tut.
Während ich durch sie hindurchschritt, standen die Leute da und rührten in der Stille. Es war ein bescheidenes Gebräu aus unzusammenhängenden Gesten, gedämpften Sätzen und schweigender Unbehaglichkeit. Manche wandten sich ab.
Ich blickte zurück zum Flugzeug. Der offene Mund des Piloten schien zu lächeln.