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In diesem Augenblick erreichte sie ein großes Beben.

Es tanzte mit der Brise durchs Fenster hinein. Vielleicht war es der Atem des Dritten Reiches, der sich zu seiner vollen Stärke sammelte. Oder vielleicht war es Europa, das wieder zu Atem kam. Wie auch immer, es fiel zwischen sie, während ihre metallischen Augen über den Küchentisch hinweg aufeinanderklirrten.

»Du hast dich noch nie um dieses Land geschert«, sagte Hans junior. »Jedenfalls nicht genug.«

Papas Augen fingen an zu rosten. Doch Hans junior ließ nicht mehr von ihm ab. Aus irgendeinem Grund schaute er jetzt das Mädchen an. Ihre drei Bücher standen aufrecht auf dem Tisch, und Liesel formte mit ihrem Mund schweigend, wie ins Gespräch vertieft, die Worte, die sie las. »Was liest das Mädchen überhaupt für ein Zeug? Sie sollte Mein Kampf lesen.«

Liesel schaute auf.

»Kümmer dich nicht darum, Liesel«, sagte Papa. »Lies ruhig weiter. Er weiß nicht, was er sagt.«

Aber Hans junior war noch nicht fertig. Er trat näher und sagte: »Man ist entweder für den Führer oder gegen ihn – und ich sehe klar und deutlich, dass du gegen ihn bist. Das warst du schon immer.« Liesel betrachtete ihn, schaute ihm ins Gesicht, auf die dünnen Lippen und den felsigen Grat seiner unteren Zahnreihe. »Es ist jämmerlich – wie kann ein Mann dastehen und untätig sein, während eine ganze Nation den Müll wegräumt und sich selbst zu wahrer Größe aufschwingt?«

Trudi und Mama saßen schweigend da, ängstlich, genauso wie Liesel. In der Luft hing der Geruch von Erbsensuppe, von etwas Brennendem und von Streit.

Alle warteten auf die nächsten Worte.

Der Sohn sprach sie aus. Es waren nur zwei.

»Du Feigling.« Er schleuderte sie Papa ins Gesicht, dann machte er auf dem Absatz kehrt und verließ das Haus.

Gleichwohl vergeblich, ging Papa zur Tür und rief seinem Sohn hinterher: »Feigling? Ich soll hier der Feigling sein?« Dann eilte er ihm nach. Mama lief zum Fenster, öffnete es und schlug die Fahne beiseite. Sie, Trudi und Liesel standen dicht beieinander und schauten zu, wie ein Vater seinen Sohn einholte, ihn am Arm griff und ihn anflehte, stehen zu bleiben. Sie konnten die Worte nicht verstehen, aber die Art, wie sich Hans junior losriss, sprach eine deutliche Sprache. Der Anblick von Papa, der ihm nachsah, schallte geradezu von der Straße zu ihnen herüber.

»Hansi!«, schrie Mama schließlich. Sowohl Trudi als auch Liesel zuckten vor ihrer Stimme zurück. »Komm zurück!«

Der Junge war weg.

Ja, der Junge war weg, und ich wünschte, ich könnte euch jetzt sagen, dass für Hans Hubermann junior alles gut ausgehen würde, aber das tat es nicht.

Als er an diesem Tag im Namen des Führers der Himmelstraße den Rücken kehrte, wandte er sich einer anderen Geschichte zu, die ihn schließlich tragischerweise nach Russland führte.

Nach Stalingrad.

EINIGE TATSACHEN ÜBER STALINGRAD

1. 1942 und Anfang 1943 war der Himmel in dieser Stadt jeden Morgen so weiß wie ein gebleichtes Bettlaken.

2. Den ganzen Tag lang, während ich die Seelen davontrug, wurde dieses Laken mit Blut besudelt, bis es sich – vollgesogen – zur Erde niederwölbte.

3. Abends wurde es ausgewrungen und wieder gebleicht, bereit für den nächsten Tag.

4. Und das war, als die Schlachten lediglich bei Tage ausgetragen wurden.

Sein Sohn war gegangen, und Hans Hubermann stand noch eine Weile da. Die Straße wirkte riesig.

Als er wieder ins Haus kam, richtete Mama bloß ihren Blick an ihn, kein einziges Wort. Sie tadelte ihn mit keiner Silbe, was, wie ihr wisst, höchst ungewöhnlich war. Wahrscheinlich war sie der Meinung, dass es Strafe genug war, vom eigenen Sohn ein Feigling genannt zu werden.

Nachdem das Abendessen verzehrt worden war, blieb er eine Weile still am Tisch sitzen. War er wirklich ein Feigling, wie es ihm sein Sohn so grausam vorgeworfen hatte? Im Ersten Weltkrieg hatte er sich selbst für einen gehalten. Er hatte diesem Umstand sein Überleben zugeschrieben. Andererseits: Ist das Eingeständnis der eigenen Angst tatsächlich Feigheit? Ist man ein Feigling, wenn man froh ist, am Leben geblieben zu sein?

Seine Gedanken liefen kreuz und quer über die Tischplatte, die er unentwegt anstarrte.

»Papa?«, sagte Liesel, aber er schaute sie nicht an. »Wovon hat er geredet? Was hat er damit gemeint, als er...«

»Nichts«, antwortete Papa. Er sprach ruhig und leise, der Tischplatte zugewandt. »Es ist nichts. Vergiss ihn, Liesel.« Es dauerte etwa eine Minute, ehe er weitersprach. »Solltest du dich nicht langsam fertig machen?« Diesmal schaute er sie an. »Du musst doch zum Freudenfeuer, nicht wahr?«

»Ja, Papa.«

Die Bücherdiebin ging und zog ihre Hitlerjugend-Uniform an. Eine halbe Stunde später verließen sie das Haus in Richtung JM-Haus. Von dort aus sollten die Kinder in ihren Gruppen zum Marktplatz marschieren.

Reden würden gehalten werden.

Ein Feuer würde angezündet werden.

Ein Buch würde gestohlen werden.

100 PROZENT REINER DEUTSCHER SCHWEISS

Die Jugend Deutschlands marschierte in Richtung Rathaus, zum Marktplatz, und entlang der Straße standen die Zuschauer Spalier. Dies war eine der wenigen Gelegenheiten, bei denen Liesel ihre leibliche Mutter und jedes andere Problem vergaß, das sie derzeit ihr Eigen nannte. Unwillkürlich schwoll ihr die Brust, während die Leute links und rechts der Straße ihnen applaudierten. Ein paar Kinder winkten ihren Eltern, aber nur kurz – es war ausdrücklich angeordnet worden, geradeaus zu marschieren, und schaut nicht zur Seite, und winkt den Leuten auch nicht zu.

Als Rudis Gruppe den Marktplatz erreichte und den Befehl zum Anhalten erhielt, kam es zu einer kleinen Unstimmigkeit. Tommi Müller. Alle blieben stehen, nur Tommi nicht. Er lief geradewegs auf den Jungen vor ihm auf.

»Dummkopf!«, spie der Junge aus, noch bevor er sich umdrehte.

»Tut mir leid«, sagte Tommi, die Arme entschuldigend ausgebreitet. Sein Gesicht stolperte über sich selbst. »Ich hab’s nicht gehört.« Es war nur ein unbedeutender Augenblick, aber es war auch ein Ausblick darauf, was folgen sollte. Für Tommi. Für Rudi.

Als der Marsch zu Ende war, wurde der Hitlerjugend gestattet, sich zu zerstreuen. Es wäre ohnehin fast unmöglich gewesen, sie alle beieinanderzuhalten, als das Freudenfeuer in ihren Augen glühte und sie erregte. Gemeinsam schrien sie, wie aus einer Kehle: »Heil Hitler!«, und dann durften sie gehen, wohin sie wollten. Liesel hielt nach Rudi Ausschau, aber nachdem sich die Menge in Bewegung gesetzt hatte, war sie in einem Durcheinander aus Uniformen und schrillen Stimmen gefangen, mit denen die Kinder einander zuriefen.

Um halb fünf hatte sich die Luft merklich abgekühlt.

Die Leute machten Scherze, dass man sich aufwärmen müsse. »Zu mehr ist dieser Schund doch sowieso nicht nütze.«

Man schaffte alles auf Karren herbei. Die Ladung wurde in der Mitte des Marktplatzes abgeworfen und mit etwas süßlich Riechendem übergossen. Bücher und Papier und andere leichte Gegenstände rutschten oder rollten von dem Haufen und wurden wieder hinaufgeworfen. Aus einiger Entfernung wirkte das Ganze wie ein Vulkan. Oder wie etwas Groteskes, etwas Überirdisches, das wundersamerweise mitten in der Stadt gelandet war und schnellstmöglich ausgelöscht werden musste.

Der Geruch der Flüssigkeit, mit der man den Haufen getränkt hatte, kroch der Menge entgegen, die man zwang, gebührenden Abstand zu halten. Auf dem Marktplatz, den Stufen zum Rathaus und auf den Dächern ringsherum befanden sich gut und gerne tausend Menschen.

Als Liesel sich ihren Weg durch die Menge zu bahnen versuchte, verleitete sie ein Knistern zu der Annahme, dass man das Feuer bereits angezündet hätte. Sie haben ohne mich angefangen! Aber das stimmte nicht. Das Geräusch entsprang den wie elektrisiert wartenden Menschen, deren innere Spannung mit jeder Sekunde wuchs.