Seine blauen Augen starrten zu Boden.
Und sahen nichts.
Bevor sie aufwachte, hatte die Bücherdiebin vom Führer geträumt, von Adolf Hitler. In ihrem Traum nahm sie an einer Versammlung teil, auf der er eine Rede hielt. Sie betrachtete den knochenfarbenen Scheitel in seinem Haar und das vollkommene Viereck seines Schnurrbarts. Bereitwillig lauschte sie dem Strom aus Worten, die aus seinem Mund quollen. Seine Sätze glühten im Licht. In einem ruhigeren Augenblick beugte er sich doch tatsächlich nieder und lächelte sie an. Sie erwiderte das Lächeln und sagte: »Guten Tag, Herr Führer. Wie geht’s dir heut?« Sie konnte nicht besonders gut sprechen, geschweige denn lesen, weil sie kaum je die Schule besucht hatte. Den Grund dafür würde sie zur rechten Zeit erfahren.
Gerade als der Führer antworten wollte, wachte sie auf.
Es war Januar 1939. Sie war neun Jahre alt.
Ihr Bruder war tot.
Ein Auge offen.
Eines noch träumend.
Ich glaube, es ist besser, wenn ein Traum vollendet wird, aber darüber habe ich nun wirklich keine Macht.
Das zweite Auge schrak auf, erwachte und erwischte mich, gerade als ich niederkniete, seine Seele heraustrennte, in meine geschwollenen Arme nahm, wo sie schlaff lag. Schon bald wurde sie wärmer, aber als ich die Seele des Jungen aufnahm, war sie noch ganz weich und kalt, wie Eiskrem. Sie schmolz in meinen Armen. Dann wurde sie warm. Heilte.
Für Liesel Meminger blieben nur die eingekerkerte Steifheit der Glieder und der beständige Angriff der Gedanken. Es stimmt nicht. Es stimmt nicht. Es stimmt nicht.
Und das Zittern.
Warum zittern sie immer?
Ja, ich weiß, ich weiß – ich nehme an, es hat etwas mit Instinkt zu tun. Den Fluss der Wahrheit aufzuhalten. Ihr Herz war in diesem Augenblick schlüpfrig und heiß, und laut, so laut so laut.
Dummerweise blieb ich. Ich schaute zu.
Als Nächstes ihre Mutter.
Die Bücherdiebin weckte sie mit demselben verstörten Zittern.
Vielleicht könnt ihr es euch vorstellen, vielleicht auch nicht. Denkt euch eine schwerfällige Stille. Denkt euch Fetzen und Splitter aus fließender Verzweiflung. Und stellt euch vor, wie man in einem Zug ertrinkt.
Es schneite unentwegt, und der Zug nach München musste wegen eingeschneiter Gleise auf der Strecke anhalten. Eine Frau heulte. Neben ihr stand ein Mädchen, wie betäubt.
In Panik öffnete die Mutter die Tür.
Sie kletterte hinaus in den Schnee, den kleinen Körper in den Armen.
Dem Mädchen blieb nichts anderes übrig, als ihr zu folgen.
Wie ihr bereits wisst, stiegen auch zwei Wachmänner aus. Sie diskutierten und stritten darüber, was zu tun war. Die Situation war, gelinde gesagt, unerfreulich. Es wurde schließlich beschlossen, dass alle drei zur nächsten Station gebracht werden sollten, wo man Weiteres veranlassen würde.
Diesmal humpelte der Zug durch das eingeschneite Land. Er taumelte in den Bahnhof und blieb stehen.
Sie traten auf den Bahnsteig, der Körper des Jungen noch immer in den Armen der Mutter.
Sie standen da.
Der Junge wurde schwer.
Liesel hatte keine Ahnung, wo sie sich befand. Alles war weiß, und als sie im Bahnhof zurückblieben, starrte sie auf die verblassten Buchstaben auf dem Schild vor ihr. Für Liesel hatte dieses Dorf keinen Namen. Hier, in diesem namenlosen Dorf, sollte ihr Bruder Werner zwei Tage später begraben werden. Die Trauergesellschaft bestand aus einem Priester und zwei frierenden Totengräbern.
Zwei Wachmänner.
Zwei Totengräber.
Der eine gibt Befehle.
Der andere tut, was man ihm sagt.
Was, wenn der andere mehr als ein Einzelner wäre?
Fehler, Fehler – manchmal scheine ich nichts als Fehler zu machen.
Zwei Tage lang kümmerte ich mich um meine Angelegenheiten. Ich reiste über den Erdball und legte die Seelen auf das Förderband zur Ewigkeit. Ich sah ihnen nach, wie sie reglos dahinglitten.
Ein paar Mal schärfte ich mir ein, mich von der Beerdigung von Liesel Memingers Bruder fernzuhalten. Doch ich missachtete meinen eigenen Rat.
Bereits aus großer Entfernung sah ich die kleine Gruppe Menschen steif inmitten des Ödlands aus Schnee stehen. Ich näherte mich, und der Friedhof hieß mich willkommen wie einen Freund.
Schon bald war ich bei ihnen.
Ich senkte den Kopf.
Links neben Liesel standen die Totengräber, rieben sich die Hände und jammerten über den Schnee und die schlechten Arbeitsbedingungen. »Es ist so schwer, durch das ganze Eis zu graben« und so weiter. Einer von ihnen war sicher nicht älter als vierzehn Jahre. Ein Lehrling.
Als er davonging, fiel ihm nach ein paar Dutzend Schritten ein schwarzes Buch aus der Manteltasche, ohne dass er es merkte. Ein sanfter Fall.
Ein paar Minuten später wandte sich Liesels Mutter gemeinsam mit dem Priester zum Gehen. Sie dankte ihm für die Zeremonie.
Aber das Mädchen blieb.
Ihre Knie berührten den eisigen Boden. Ihr Augenblick war gekommen.
Immer noch ungläubig, fing sie an zu graben. Er konnte nicht tot sein. Er konnte nicht tot sein. Er konnte nicht …
Innerhalb von Sekunden hatte sich der Schnee in ihre Haut gefressen.
Gefrorenes Blut malte Linien auf ihren Händen.
Irgendwo in all dem Schnee sah sie ihr entzweigebrochenes Herz. Jede seiner Hälften glühte und schlug unter all dem Weiß. Sie merkte erst, dass ihre Mutter zurückgekommen war, um sie zu holen, als sie die knochige Hand auf ihrer Schulter spürte. Sie wurde weggezerrt. Ein warmer Schrei füllte ihre Kehle.
Als das Zerren ein Ende nahm, standen die Mutter und
das Mädchen da und atmeten.
Etwas Schwarzes, Eckiges ruhte im Schnee.
Nur das Mädchen sah es.
Sie bückte sich, hob es auf und hielt es fest in
ihren Fingern.
Die Schrift auf dem Buch war silbern.
Sie hielten sich an den Händen.
Ein letzter, durchnässter Abschied, dann drehten sie sich um und verließen den Friedhof, wobei sie mehrmals zurückschauten.
Ich dagegen blieb noch ein Weilchen länger.
Ich winkte.
Niemand winkte zurück.
Mutter und Tochter ließen den Friedhof hinter sich und machten sich auf zum Bahnhof, um den nächsten Zug zu besteigen, der nach München fuhr.
Beide waren mager und bleich.
Beide hatten wunde Lippen.
Liesel sah es in dem schmutzigen, angelaufenen Fenster des Zuges, als sie kurz vor Mittag einstiegen. In den Worten der Bücherdiebin, die sie später niederschrieb, setzten sie ihre Reise fort, als ob alles passiert sei.
Als der Zug im Münchener Hauptbahnhof einfuhr, quollen die Passagiere aus den Wagen wie aus einem aufgerissenen Paket. Es waren Menschen jeder Größe und Statur; die Armen unter ihnen erkannte man am leichtesten. Sie bemühen sich, immer in Bewegung zu bleiben, als ob es helfen würde, von einem Ort zum anderen zu gehen. Sie ignorieren die Tatsache, dass am Ende ihrer Reise nur eine neue Version desselben alten Problems auf sie wartet – wie ein Verwandter, den man nur widerwillig begrüßt.
Ich glaube, die Mutter wusste das nur zu genau. Sie würde ihr Kind zwar nicht den oberen Zehntausend von München übergeben, aber immerhin einer Pflegefamilie, die das Mädchen und den Jungen zumindest ernähren und ihnen eine Ausbildung angedeihen lassen konnte.