»Was?« Das Knistern des Feuers hatte ihre Worte geschluckt.
»Ich sagte«, flüsterte sie noch einmal und beugte sich näher, »dass seine Haare wie Federn sind …«
Hans Hubermann schaute auf und nickte. Ich bin sicher, er wünschte sich, die Augen des Mädchens zu haben. Sie waren sich nicht bewusst, dass Max alles gehört hatte.
Gelegentlich brachte er seine Ausgabe von Mein Kampf mit und las im Schein der Flammen. Er kochte angesichts des Inhalts. Das dritte Mal, als er es dabeihatte, fand Liesel den Mut, ihre Frage zu stellen.
»Ist es … gut?«
Er schaute von den Seiten auf, ballte seine Hand zur Faust und öffnete sie dann wieder. Er fegte den Zorn beiseite und lächelte sie an. Dann hob er die fedrigen Haarfransen und strich sie dann in Richtung seiner Augen glatt. »Es ist das beste Buch überhaupt.« Er blickte erst Papa an und dann Liesel. »Es hat mir das Leben gerettet.«
Das Mädchen rückte ein wenig näher und schlug die Beine zum Schneidersitz übereinander. Leise fragte sie:
»Wie?«
Und so fing das Geschichtenerzählen im Wohnzimmer an. Jeden Abend fand es statt, gerade so laut, dass die Anwesenden die Worte verstehen konnten. Vor ihnen allen wurden die Teile des Puzzles zusammengesetzt. Das Bild ergab das Leben eines jüdischen Straßenboxers.
Manchmal lag Humor in Max Vandenburgs Stimme, obwohl ihr Klangkörper beinahe nur aus Reibung bestand, wie ein Stein, der langsam über einen Felsbrocken geschoben wird. Manchmal war sie tief, und manchmal kratzte sie; manchmal brach sie entzwei. In Momenten der Reue klang sie unterirdisch und am Ende eines Scherzes oder in Augenblicken von Selbstverachtung zersplittert.
»Herr Jesus« war der häufigste Kommentar zu Max Vandenburgs Erzählung, meist gefolgt von einer Frage.
Wie lange waren Sie in der Vorratskammer?
Wo ist Walter Kugler jetzt?
Wissen Sie, was mit Ihrer Familie passiert ist?
Wohin ist die schnarchende Frau gefahren?
Sie haben tatsächlich nur drei von dreizehn Kämpfen gegen
Walter gewonnen?
Warum haben Sie immer wieder gegen ihn geboxt?
Als Liesel später auf ihr Leben zurückblickte, erschienen ihr diese Nächte im Wohnzimmer am deutlichsten im Gedächtnis. Sie sah noch das brennende Licht auf Max’ Eierschalengesicht vor sich und konnte sogar den menschlichen Geschmack seiner Worte auf der Zunge spüren. Die Chronologie seines Überlebens wurde Stück für Stück berichtet, als würde er jeden Teil davon aus sich herausschneiden und ihr auf einem Teller überreichen.
»Ich bin so selbstsüchtig.«
Als er das sagte, bedeckte er mit dem Unterarm sein Gesicht. »Ich lasse meine Lieben zurück. Ich komme hierher. Ich bringe alle in Gefahr …« Er ließ alles aus sich herausfallen und fing an zu flehen. Trauer und Verzweiflung waren ihm ins Gesicht genagelt. »Es tut mir leid. Bitte glauben Sie mir. Es tut mir so leid, so leid. Es tut mir …«
Sein Arm berührte das Feuer, und er zuckte zurück.
Sie alle betrachteten ihn schweigend. Dann stand Papa auf und ging zu ihm. Er setzte sich neben ihn.
»Haben Sie sich den Ellbogen verbrannt?«
Eines Abends saßen Hans, Max und Liesel vor dem Kamin. Mama war in der Küche. Max las wieder in Mein Kampf.
»Wissen Sie was?«, sagte Hans. Er beugte sich näher ans Feuer. »Liesel kann übrigens auch ganz gut lesen.« Max senkte das Buch. »Und sie hat noch mehr mit Ihnen gemein.« Papa schaute zur Tür, ob Rosa nicht zufällig gerade hereinkam. »Sie prügelt sich auch ab und zu ganz gerne.«
»Papa!«
Liesel, nur noch kurze Zeit elf Jahre alt und immer noch hager und schlaksig, wie sie da an die Wand gelehnt saß, war empört. »Ich habe mich noch nie geprügelt!«
»Pst!« Papa lachte. Er bedeutete ihr, ihre Stimme zu dämpfen. Diesmal neigte er sich dem Mädchen zu. »Und was ist mit der Abreibung, die du Ludwig Schmeikl verpasst hast, hm?«
»Ich habe niemals...« Sie war entlarvt. Weiteres Leugnen war zwecklos. »Woher weißt du das?«
»Ich habe seinen Papa im ›Knoller‹ getroffen.«
Liesel hielt ihr Gesicht in den Händen. Dann schaute sie auf und stellte die Schlüsselfrage: »Hast du Mama davon erzählt?«
»Machst du Witze?« Er zwinkerte Max zu und flüsterte dann dem Mädchen zu: »Du bist doch noch am Leben, oder?«
In dieser Nacht spielte Papa zum ersten Mal seit Monaten wieder zu Hause Akkordeon. Es dauerte etwa eine halbe Stunde, bis er Max eine Frage stellte:
»Haben Sie spielen gelernt?«
Das Gesicht in der Ecke war den Flammen zugewandt. »Ja.« Eine Weile herrschte Schweigen. »Bis ich neun war. Dann verkaufte meine Mutter die Musikschule und hörte auf zu unterrichten. Sie behielt ein einziges Instrument, aber als ich mich weigerte zu lernen, gab sie es auf. Ich war ein Narr.«
»Nein«, sagte Papa. »Sie waren ein Kind.«
In den Nächten gingen Liesel Meminger und Max Vandenburg ihren sich gleichenden Gewohnheiten nach. In getrennten Räumen hatten sie ihre Albträume und wachten auf, sie mit einem Schrei in ertrinkenden Laken, er neben einem rauchenden Feuer, um Luft ringend.
Manchmal, wenn Liesel bis drei Uhr morgens mit Papa las, erlebten sie Max’ erwachende Momente. »Er träumt wie du«, sagte Papa dann, und ein Mal, als sie Max’ angstvolle Nachtgeräusche hörte, entschloss sich Liesel aufzustehen. Anhand seiner Erzählungen hatte sie eine ziemlich gute Vorstellung davon, was er in seinen Träumen sah, wenn auch nicht den genauen Teil der Geschichte, der ihm jede Nacht einen Besuch abstattete.
Leise ging sie durch den Flur und ins Wohnzimmer.
»Max?«
Das Flüstern war sanft, bewölkt in einer Kehle aus Schlaf.
Am Anfang kam keine Reaktion, aber kurz darauf richtete er sich auf und blickte suchend in die Dunkelheit.
Papa schlief noch in ihrem Zimmer, und Liesel setzte sich Max gegenüber ans andere Ende des Kamins. Hinter ihnen schlief Mama geräuschvoll. Sie stand der Schnarcherin aus dem Zug in nichts nach.
Das Feuer war nur noch ein ersterbendes Häuflein aus Rauch und toter Asche. In dieser besonderen Nacht trafen sich zwei Stimmen.
Das Mädchen: »Erzählen Sie mir: Was sehen Sie, wenn Sie
träumen?«
Der Jude: »Ich sehe mich selbst, wie ich mich umdrehe
und zum Abschied winke.«
Das Mädchen: »Ich habe auch Albträume.«
Der Jude: »Was siehst du?«
Das Mädchen: »Einen Zug und meinen toten Bruder.«
Der Jude: »Deinen Bruder?«
Das Mädchen: »Er starb auf der Fahrt hierher.«
Das Mädchen und der Jude, im Chor: »Ja.«
Es wäre schön, wenn man behaupten könnte, dass nach diesem kleinen Durchbruch weder Liesel noch Max länger von ihren bösen Träumen geplagt wurden. Es wäre schön, aber nicht die Wahrheit. Die Albträume traten vor, wie sie es immer taten, wie der beste Mann der gegnerischen Mannschaft, nachdem man Gerüchte gehört hat, er wäre krank oder verletzt – aber da kommt er und wärmt sich mit seiner Mannschaft auf, bereit, das Spielfeld zu erobern. Oder wie ein Zug, der pünktlich auf einem nächtlichen Gleis einfährt und die Erinnerungen an einem Seil hinter sich herzieht. Ein Bündel voller Erinnerungen. Ein Bündel, das auf und nieder hüpft.